Henryk Mandelbaum
Aufgeregt läuft er über die Fundamente der Ruine, zeigt hierhin und dorthin, rudert weit ausholend mit den Armen, stellt Situationen nach und überschüttet die Dolmetscherin mit einem nicht zu übersetzenden Redefluss.
Ungeduldig beantwortet er die Fragen der deutschen ZuhörerInnen. Deren Unfähigkeit, ihm in die Unmittelbarkeit seiner Erinnerungen zu folgen, macht ihn ungehalten. Eindringlich fragt er immer wieder zwischen seinen polnischen Sätzen auf deutsch: 'Verstehst du mich?' Das klingt nicht mehr nach einer Frage, sondern einer Aufforderung.
Seit drei Jahren begleitet der jüdische Pole Henryk Mandelbaum Gruppen des Bildungswerk Stanislaw Hantz e. V. in Birkenau und zeigt ihnen die Überreste der Orte seiner damaligen Arbeit: die Gaskammern, die Krematorien, die Verbrennungsgruben. Hier musste er Ankommende beruhigen, ihnen beim Entkleiden helfen, sie in die Gaskammern bringen, ihre Leichen dort heraus tragen, diese nach versteckten Wertgegenständen untersuchen und sie schliesslich in die lodernde Grube werfen. Auch Henryk Mandelbaums Eltern wurden in einer dieser Gaskammern ermordet. Das war noch vor seiner Ankunft. ,Meine Eltern wurden gewiss ins Gas geschickt. Bis heute und auch direkt nach dem Krieg bekam ich von ihnen keine Nachricht.' Vergleichsweise lange gelang es Henryk Mandelbaum, sich der Deportation nach Auschwitz zu entziehen. Er flüchtete aus dem Ghetto Dabrowa Gorniscza, in das man ihn zusammen mit seiner Familie gebracht hatte, lebte bei Bekannten unter falschem Namen, schlug sich durch. Erst der Verrat eines polnischen Bekannten brachte ihn in die Hände der Deutschen und kurz darauf nach Auschwitz, wo er nach einigen Wochen - im Frühjahr 1944 - dem so genannten Sonderkommando zugeteilt wurde. Das war zu Beginn der ,Höss-Aktion', der Vernichtung der ungarischen Juden und Jüdinnen, die den ganzen Sommer über dauerte. Innerhalb von drei Monaten wurden etwa 300.000 Menschen ermordet.
,Mein erster Eindruck war: Ich bin in die Hölle geraten. Als die Gaskammern zum ersten Mal geöffnet wurden und ich diese Menschen erblickte, diese verflochtenen toten Körper. Familien hielten sich an den Händen, Mütter hielten ihre Kinder eng umschlungen. So wie sie die Kammer betraten, wurden sie vergast. Das war für mich etwas Unheimliches. Etwas Wahnsinniges, Unbegreifliches.' Dass man auf diese Art und Weise Menschen töten konnte, hatte er nicht für möglich gehalten. Und auch nicht, dass er es sein würde, der diese Menschen nehmen und in eine Grube zum Verbrennen schleifen musste. ,Ich hatte nicht gedacht, dass man es verkraften kann, so zu arbeiten. In meinem Inneren glaube ich, bin ich damals erstarrt. Alles erstarrte, weil ich so etwas noch nie im Leben gesehen hatte.' Als unmittelbarer Zeuge des Massenmordes wurde er mit den anderen Häftlingen des Sonderkommandos von den übrigen KZ-Häftlingen streng isoliert. Immer wieder selektierte die SS Sonderkommando-Häftlinge, tauschte sie gegen neue, kräftigere und weniger verzweifelte aus und ermordete die Übrigen. Im Oktober 1944 nahm Henryk Mandelbaum am Aufstand des Sonderkommandos teil und überlebte die nachfolgenden Mordaktionen der SS. Als die Front im Osten immer näher rückte, wurden von einstmals 2000 Sonderkommando-Häftlingen schließlich die letzten 80 noch lebenden Mitglieder des Kommandos auf Transport in Richtung Mauthausen geschickt. Henryk Mandelbaum ahnte, dass dies sein endgültiges Todesurteil sein würde und beschloss zu fliehen. Er besorgte sich zivile Kleidung, die er auf dem Evakuierungsmarsch unter der Häftlingskleidung trug. In einem günstigen Moment verliess er die Kolonne der Häftlinge und tauchte in der Menge der am Strassenrand stehenden ZivilistInnen unter. Lange Zeit glaubte Henryk Mandelbaum, er sei der Einzige des Sonderkommandos, der überlebt hatte. Doch von den 80 Mitgliedern des Kommandos, die Anfang 1945 auf den ,Todesmarsch' nach Westen getrieben wurden, leben heute noch zwischen 25 und 30 Männer weltweit. Henryk Mandelbaum ist einer dieser Wenigen, die bereit sind und die Kraft haben, über ihre Zeit in Auschwitz zu erzählen. ,Wenn ich daran denke, was ich sah und erlebte, dann fühle ich mich heute wie ein auferstandener Mensch.'
Im Alter von 85 Jahren starb Henryk Mandelbaum nach einer schweren Krankheit in der
Nacht zum 17. Juni 2008. Zum Nachruf