Der vergessene Holocaust

»Deutsches Kulturerbe auf polnischem Boden«: Das Vernichtungslager Majdanek gehört zu den unbekannteren Stätten faschistischen Terrors Von Brigitta Huhnke Artikel zur Bildungsreise nach Lublin im Jahr 2011

Johanna Krauze erinnert sich genau daran, als sie vor sechs Jahren ihr Studium der Judaistik an der Uniwersytet Marii Curie-Sklodowskiej (UMCS) in Lublin begonnen hatte: »Ich kannte allgemein die Bedeutung des Konzentrationslagers Majdanek, aber ich wußte nichts über die ›Aktion Erntefest‹ vom 3. November 1943, wie so viele Menschen hier in der Region«. Heute engagiert sich die junge Wissenschaftlerin in der 2008 gegründeten Assoziation Studnia Pamieci (Brunnen der Erinnerung), um die Geschichte des Judenmordes in der Region sichtbar zu machen. Mit deren Sprecherin Edyta Nowak hatte sie Anfang November die zweitägige Konferenz »Vernichtung – Wissenschaft, Bildung, Erinnerung« an der Universität eröffnet.

Bis zur Besetzung Polens 1939 lebten etwa 40000 jüdische Menschen in der Stadt Lublin, sie stellten ein Drittel der Einwohner. Mit der berühmten »Hochschule der Weisen« war die Stadt in den dreißiger Jahren ein bedeutendes Zentrum des jüdischen Chassidismus. Aber bereits im November 1939 hatte der SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik in Lublin eine der wichtigsten Zentralen des Naziterrors vor allem gegen die jüdische Bevölkerung errichtet. Im Spätsommer 1941 erließ Heinrich Himmler den Befehl zum Bau des »Kriegsgefangenenlagers Lublin« im Vorort Majdanek, wofür ab Herbst 1941 mindestens 500 polnische Gefangene jüdischer Herkunft und zahllose sowjetische Kriegsgefangene Sklavendienste leisten mußten. Ab November war Majdanek integraler Bestandteil des deutschen KZ-Systems. Juden aus Lagern und Ghettos der Region hat die SS schon Ende 1941 in Majdanek auf ihre Arbeitstauglichkeit hin selektiert. Sie verschleppte viele Menschen sofort weiter, z.B. in den zwölf Kilometer entfernten Wald von Krepic, wo bis Mitte 1944 insgesamt etwa 30000 Menschen vor allem aus Polen und der Sowjetunion den Tod fanden. Nach letztem Stand der Forschung des Museums Majdanek sind von Herbst 1941 bis Juli 1944 etwa 150000 Menschen nach Majdanek deportiert worden. 80000 haben die Schergen direkt im Lager umgebracht, davon 60000 Juden und Jüdinnen.

Für Tomasz Kranz, Direktor der Gedenkstätte Majdanek, soll die Bedeutung Lublins für die »Aktion Reinhardt«, während der von März 1942 bis Oktober/November 1943 im Distrikt Lublin insgesamt zwei Millionen Juden und 50000 Roma ermordet worden sind, stärker in den Vordergrund rücken: »Von hier aus wurde die Räumung der Ghettos koordiniert und die mörderische Arbeit der Vernichtungslager in Belzec, Sobibor und Treblinka gesteuert. Hier befanden sich jene Magazine, in denen das geraubte Eigentum der Opfer angehäuft wurde.«

Mordaktion »Erntefest«

Auch in Majdanek wurde vergast, ab September 1942 etwa ein Jahr lang. Diese Art des Mordens ging dann nicht mehr schnell genug, verglichen mit Erschlagen, Erschießen oder Hängen von Gefangenen. Im September 1943 war Globocnik durch den SS- und Polizeiführer Jakob Sporrenberg abgelöst worden, angeblich mit der Anweisung Himmlers, alle noch verbliebenen Juden umgehend zu ermorden. Ein indirekter Anlaß für die Mordaktion »Erntefest« scheint – außer den Querelen zwischen SS und deutschen Wirtschaftsführern um weitere Ausbeutung jüdischer Gefangener – der Aufstand im Vernichtungslager Sobibor am 14. Oktober 1943 gewesen zu sein. Dort waren in den anderthalb Jahren zuvor mindestens 250000 jüdische Häftlinge ermordet worden, berichtete Marek Bem, Leiter der Gedenkstätte.

Ende Oktober mußten Gefangene auf dem Gelände von Majdanek mindestens drei große Gräben ausheben: 100 Meter lang, bis zu drei Meter breit. Der »blutige Mittwoch« am 3. November 1943 »war der Höhepunkt nicht nur der ›Aktion Reinhardt‹, sondern die größte Exekution in der Geschichte des besetzten Europas«, sagt Robert Kuwaek, Historiker der Gedenkstätte Majdanek. Seit mehr als zwanzig Jahren erforscht er Leben und Vernichtung der Juden im Lubliner Land. Allein im KZ Majdanek wurden an diesem Tag 18000 Juden und Jüdinnen ermordet, im knapp 60 Kilometer entfernten Trawniki wahrscheinlich 10000. Die Gesamtbilanz: Bis zum Abend des 4. November 1943 fielen mindestens 42000 jüdische Menschen der Waffen-SS zum Opfer.

Nur fünf Überlebende

Dieses »Schlüsselereignis der Vernichtung« haben in Majdanek nach Erkenntnissen von Robert Kuwaek wahrscheinlich nur drei jüdische Frauen und zwei jüdische Männer überlebt. Einer der ganz wenigen Augenzeugen war ein polnischer, nichtjüdischer Gefangener. Er berichtet, wie am Morgen des 3. November etwa 3000 Jüdinnen gezwungen wurden, sich unter Schreien und Schüssen auszuziehen. »Der mächtige Lautsprecher beginnt mit lautem Geräusch, in den Raum ergießen sich die Töne eines Walzers, wie an Feiertagen, über dem Lager wehen die schwarzen SS-Flaggen, auf ihnen die Zeichen ihrer Nation … Die Entblößten treiben sie in einen Schlauch doppelten, stromgeladenen Stacheldrahts, verbunden mit den Gräben … Die ersten Schüsse erschallen … Sie peitschen mit heißem Feuer über die nackten Körper. Jetzt hat es richtig begonnen.« In der nur drei Kilometer entfernten Stadtmitte Lublins waren die Schreie der Verzweifelten dennoch zu hören. Über Tage hinweg stand weißer Rauch über der Stadt, an vielen Orten im Lubliner Land wurden Leichenberge auf Scheiterhaufen und Rosten verbrannt. Und trotzdem scheint dieses Ereignis im kollektiven Gedächtnis der Menschen von Lublin wie ausgelöscht. Über einzelne Täter ist bis heute wenig bekannt. Einzig Jakob Sporrenberg wurde später für die »Aktion Erntefest« in Majdanek von einem polnischen Gericht zum Tode verurteilt.

Die Massenmorde im Lubliner Land drohen in Vergessenheit zu geraten. Die junge Sozialwissenschaftlerin Anita Ciechomska unterstrich auf der Konferenz die Bedeutung gerade auch der letzten Prozesse gegen Naziverbrecher für das Gedenken in Polen, da sie internationale und nationale Aufmerksamkeit für die vergessenen Mordstätten wecken können. Dies sei am Beispiel des Prozesses gegen Ivan Demjanjuk ersichtlich. »In den Medien vieler Länder erscheinen zum ersten Mal Namen wie Sobibor und Treblinka. Die Welt erinnerte sich an die vergessenen Konzentrationslager.« Offen wurde auf der Konferenz in Lublin über Antisemitismus in der Gegenwart diskutiert. Schändungen jüdischer Gräber kommen noch heute in der südöstlichen Woiwoodschaft vor. Für den in Warschau lebenden Lehrer Robert Szuchta, Mitverfasser des erst vor kurzem erlassenen polnischen Lehrplans zum Holocaust, sind diese Massenmorde »nicht nur jüdische Geschichte sondern auch Bestandteil polnischer Geschichte«.

Gedenkstätten bedroht

Die Gruppe »Studnia Pamieci« hat in den wenigen Jahren seit ihrer Gründung viel geschafft. Sie ist nicht nur mit den Holocaust-Forschern im Lubliner Land vernetzt, sondern kooperiert ebenso eng mit anderen Aktivistengruppen gegen das Vergessen. Dazu gehören vor allem das Bildungswerk Stanisaw Hantz in Kassel und die »Stifting Sobibor« in Amsterdam, mit denen zusammen jedes Jahr Bildungsreisen zu den Stätten der Vernichtung organisiert werden. Doch die Gedenkorte sind bedroht. In Majdanek sind von Oktober bis April einige Ausstellungsbaracken geschlossen, weil die Gebäude zu verfallen drohen, viele Exponate müssten dringend restauriert werden. In noch katastrophalerem Zustand ist das ehemalige Lager Sobibor. Im Sommer mußte die Gedenkstätte wegen plötzlicher Halbierung des Budgets durch die Gemeinde vorübergehend schließen. Marek Bem findet dazu deutliche Worte: Die Lager seien »deutsches Kulturerbe auf polnischem Boden«. Aber die deutsche Regierung zahlte nie einen Cent – weder an Majdanek noch an Sobibor.

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