Jetje Manheim

Am 14. Oktober 2003 waren wir zum ersten Mal mit Jetje Manheim in der Mahn- und Gedenkstätte Sobibor. Jetje Manheim war gemeinsam mit dem niederländischen Sobibor-Überlebenden Jules Schelvis zur Eröffnung der Gedenkallee auf dem Gelände der ehemaligen Mordstätte gekommen. Jetje Manheim war damals die Vorsitzende der niederländischen Stichting Sobibor. Danach waren wir noch viele Male zusammen in Sobibor.

Jetje Manheim hat einen ganz persönlichen Bezug zu dieser Mordstätte im Osten Polens: Ihre Großeltern Mozes Manheim und Jettje Froukje Cohen wurden von den Deutschen Nationalsozialisten am 13. Juli 1943 aus dem Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden nach Sobibor verschleppt und unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet.

Die Gedenkallee auf dem Museumsgelände in Sobibor bestand am Anfang aus zwölf individuellen Gedenksteinen, aktuell sind es über dreihundert. Ein Jahr nach der Eröffnung der Gedenkallee wurde aus dem Projekt des Bildungswerks Stanisław Hantz ein gemeinsames Vorhaben mit der niederländischen Stichting Sobibor. Ebenfalls 2004 besuchte eine Gruppe deutscher und niederländischer Teilnehmer*innen die Mordlager der „Aktion Reinhardt“ in Belzec, Sobibor und Treblinka. Auch dieses Projekt wurde gemeinsam weitergeführt. Bis 2019 wurde diese zwei-Nationen-Reise vom Bildungswerk StanisƗaw Hantz und der Stichting Sobibor zusammen veranstaltet.

Jetje Manheim

In den Anfangsjahren der beiden Projekte Gedenkallee und Zwei-Nationen-Reise hat Jetje Manheim entscheidend dazu beigetragen, dass sich aus anfänglichen Ideen und Absichten erfolgreich stabile Projekte entwickelt haben.

Mit der Ehrenmitgliedschaft für Jetje Manheim drücken wir unsere Hochachtung und unseren Dank gegenüber Jetje Manheim aus.

Jetje Manheim hat für die Veröffentlichung „Fotos aus Sobibor“ ein Geleitwort geschrieben.

Sobibor

Es schneite, als ich das erste Mal nach Sobibor kam. Als die Straßen bei jedem  Abbiegen schmaler wurden und zuletzt die schwer mit Schnee beladenen Äste auf das Dach des Busses schlugen, wurde ich immer stiller und in mich gekehrt. Beim Aussteigen versanken meine Schuhe tief im Schnee und sofort glitten meine Gedanken ab und ich machte mir Sorgen über die nassen und eiskalten Füße, die ich nun den ganzen Tag haben werde. Ich schämte mich wegen dieser Gedanken – ich war doch hier, um meiner Familie zu gedenken.

Sobibor fühlte sich an wie das Ende der Welt, ein Ort, an dem man über den Rand der Erde fallen konnte. Es gab nichts außer der Stille und den Bäumen. An einem Asphaltweg stand eingangs eine Blockhütte –  darin war ein kleines Museum. Der Asphaltweg führte zu einem runden offenen Platz mit dem so genannten Aschehügel. Nichts erinnerte an die hundertsiebzigtausend Menschen, die hierhin verschleppt worden waren um in eine Gaskammer gepresst zu werden. Nichts erinnerte an ihre Leben. Nichts zeugte vom Leben der jungen Menschen mit Zukunftsträumen, an die Leben von denjenigen die zu jung oder zu alt für Zukunftsträume waren. Hier hat sich nur die Natur der Opfer angenommen. Je näher ich meiner Vergangenheit kam, umso weniger begriff ich, dass das alles wirklich geschehen war.

Meine Eltern waren um die zwanzig und hatten sich gerade ineinander verliebt, als mein Vater Mitte 1942 untertauchen musste. Meine Mutter und ihre beste Freundin besorgten ihm Adressen für einen Unterschlupf. Sein Vater, mein Großvater Mozes Manheim, geboren am 3. Juni 1882, war technischer Zeichner bei einem Ingenieurbüro in Amersfoort. An dem Tag, als er die Aufforderung bekam, zum Deportationstransport zu gehen, nahm er von jedem in seinem Büro mit einem Händedruck Abschied und sagte: „Ich muss gehen“. Sein Chef, der Miteigentümer des Büros, bot ihm eine Adresse an, wo er untertauchen konnte. Genauso hatte es einer seiner Kollegen gemacht. Aber, so erzählten sie mir über 50 Jahre später, er wollte keinen Gebrauch davon machen, denn er wollte niemanden in Gefahr bringen. Seine Frau, meine Großmutter Jettje Froukje Cohen, geboren am 6. Januar 1889, war Krankenpflegerin. Sie arbeitete gerne und überließ die Erziehung ihres Sohns in den ersten Jahren einem Kindermädchen. Sie wäre gerne untergetaucht, dazu kam es leider nicht mehr. Und so wurden sie beide Anfang 1942 gezwungen ihr Haus in Amersfoort, einer Stadt mitten in den Niederlanden, zu verlassen und nach Amsterdam zu ziehen. Dort lebten sie an mindestens drei verschiedenen Orten, immer enger und mit stets weniger Privatsphäre. Ihren Wohnraum mussten sie mit vier weiteren, ihnen unbekannten Frauen teilen, bis sie am 20. Juni 1943 bei der letzten großen Razzia in Amsterdam festgenommen und nach Westerbork gebracht wurden. Am 13. Juli 1943 wurden sie in Westerbork auf Transport geschickt und kamen am 16. Juli 1943 in Sobibor an.

Mein Großvater hatte drei Brüder und zwei Schwestern – von ihnen überlebte niemand den Krieg. Meine Großmutter hatte vier Brüder und eine Schwester. Ein Bruder überlebte.

Als mein Vater im Mai 1945 nach Amersfoort zurückkam und dort niemanden mehr antraf, wurde er von der Familie meiner Mutter aufgenommen. Ein Jahr später heirateten sie. 1947 wurde ich geboren und mein Bruder vier Jahre später. Obwohl zu Hause niemals über meine Großeltern oder über die anderen ermordeten Familienangehörigen gesprochen wurde, trage ich die Namen meiner in Sobibor ermordeten Großmutter, Jetje Froukje; Namen, die ich mit Stolz trage.

Fünf Jahre nach meinem ersten Besuch in Sobibor wurde im Jahr 2003 die Gedenkallee eröffnet. Diese Gedenkallee, die entlang des vermuteten Weges führte, den die Opfer vom Entkleidungsort zu den Gaskammern gehen mussten, war eine Idee des Bildungswerks Stanisław Hantz, die in Zusammenarbeit mit Marek Bem, dem Direktor des Museums in Sobibor und mit Unterstützung von Doede Sijtsma von der Provinz Gelderland umgesetzt wurde. Ich war sofort von der Idee angetan, begriff jedoch erst nach Jahren, wie großartig das wirklich war und dass der Plan vor allem aufgrund des Engagements und der Standhaftigkeit von Marek Bem realisiert werden konnte.

In Polen ist das Gedenken an die geliebten Verstorbenen nicht auf Allerheiligen begrenzt und nimmt im gesellschaftlichen Leben einen wichtigen Platz ein. Der Kirchhof, wo immer viele blühende Blumen stehen, lässt dies schon von weitem sehen. An den Orten der ehemaligen Vernichtungslager gibt es kein individuelles Gedenken. Es werden höchstens Städte und Dörfer genannt, aus denen die Opfer kamen.

Hatte ich bei meinem ersten Besuch in Sobibor jede ertastbare Erinnerung an all die Leben vermisst, wurden jetzt auf der Gedenkallee Bäume gepflanzt und vor jeden Baum wurde ein Naturstein gelegt, auf dem die Namen der Familien oder Geliebten stehen, und somit kann ihrer gedacht werden. Im Museum wurde ein Schrank mit Schubladen eingerichtet, in dem Informationen über die genannten Personen zurückgelassen werden konnten, ein Foto, ein Stammbaum, eine Lebensgeschichte. Ich habe einen Gedenkstein für meine Großeltern in dieser Allee legen lassen.

Seitdem in Sobibor Steine liegen, auf denen Namen geschrieben sind von den Liebsten, oft mit einem kurzen persönlichen Text, wird in der stummen Natur erst sichtbar und fühlbar, was dort passiert ist. Das konnte ich selbst erfahren, denn als Vorsitzende der Stichting Sobibor der Niederlande kam ich meistens zweimal im Jahr nach Sobibor. So sah ich mit den anderen Mitgliedern des Vorstands die Anzahl der Steine zunehmen und auch wie heilend ein Besuch in Sobibor für diejenigen sein konnte, die mit uns kamen und ihren Familien an ihren Steinen gedenken konnten. Auch mir gab dies immer ein tröstendes und ermutigendes Gefühl, wenn ich ein Steinchen dort niederlegte und eine Kerze anzündete, wo der Stein meiner Großeltern lag, die ich nie kennen lernen konnte.

Und es geschah noch mehr Schönes. Einmal als die Stichting Sobibor mit einer Gruppe Menschen eine Erinnerungsreise machte, warteten in der Synagoge von Włodawa, unweit von Sobibor, unerwartet zwei Lehrerinnen mit einer Gruppe Schüler, mit der Bitte, ob sie mit uns nach Sobibor fahren könnten. Wir passten unser Programm an und erzählten den Schülern die Lebensgeschichte des 10-jährigen Mädchens Selly Andriesse, der von einem nicht-jüdischen Schulkameraden mit einem Stein gedacht wird. Dies wurde ein beeindruckendes Erlebnis für die Schüler, ihre Lehrer, unsere Gruppe und uns selbst.

Mit diesen Lehrern entstand eine starke Verbindung und sie begleiten uns nun jedes Jahr mit ihren Schülern nach Sobibor. Dasselbe galt für die Schüler, die bestärkt von ihren Lehrern selbst aktiv wurden. Jedes Jahr trugen sie jetzt auf dem ehemaligen Lagergelände für unsere Gruppe ein Referat vor und erstellten wirklich gute Beiträge, in denen sie über ihre Forschungen berichteten. Diese SchülerInnen begannen mit den unseren in diesem Moment anwesenden Nächsten zu sprechen, was unseren Mitreisenden hoffnungsvolle Gedanken für die Zukunft gab. Gedanken, die auch ausgesprochen wurden.

Mit der Zeit schlossen sich mehr Schulen an und der 19. April, in Polen ist dies der Holocaust Memorial Day – der Tag, an dem 1944 der Warschauer Ghettoaufstand begann – wurde ein sehr guter und dankbar stimmender Tag. Ohne die Gedenkallee mit den Steinen, die alle für sich eine persönliche Geschichte erzählen, wäre dies nicht möglich gewesen und hätte nicht eine solche Entwicklung nehmen können.

2009 war ich im Namen der Stichting Sobibor eine der Begleiterinnen der 27 niederländischen Nebenkläger im Prozess gegen Ivan Demjanjuk in München.

An dem Tag, an dem die Zeugen Jules Schelvis, Thomas Blatt und Philip Bialowitz gehört wurden, kam mir der Gedanke, dass ich mich ja in demselben Raum befand, wie die drei Personen, die zu dem Zeitpunkt in Sobibor gewesen waren, als meine Großeltern dort ankamen, und ein Schrecken durchfuhr mich. Vielleicht hatte Thomas Blatt ihre Kleidung sortiert, Philip Bialowitz das lange Haar meiner Großmutter abgeschnitten und Ivan Demjanjuk die Tür der Gaskammer geschlossen. Ich versteinerte. Niemals zuvor war mir die Geschichte meiner Großeltern so nah.

Dieses selbe Gefühl überkam mich ein zweites Mal, als ich die Fotos von Johann Niemann aus Sobibor das erste Mal zu Gesicht bekam. So hatten sie also ausgesehen, die wehenden SS-Fahnen, die gemütlichen dörflichen Häuser für die Bewacher, das schöne Haus des Lagerkommandanten, der Feuerwachturm. So hatten es auch meine Großeltern gesehen, falls sie die Aufmerksamkeit noch hatten aufbringen können nach der anstrengenden 72-stündigen Zugfahrt.

Noch einmal wurde die Geschichte, meine Geschichte, für einen Moment sichtbar und überwältigend nachvollziehbar.

Jetje Manheim, 18.10.2018

Übersetzung aus dem Niederländischen: Steffen Hänschen

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