Am 3. Juni 2019 verstarb Semyon Rozenfeld in einem Krankenhaus in Zentralisrael. Er war der letzte Überlebende des Mordlagers Sobibor und der letzte bekannte Zeuge des Mordens im Rahmen der sogenannten „Aktion Reinhardt“.
Semyon Rozenfeld wurde 96 Jahre alt. Die traumatischen Erinnerungen an das Mordlager und seine Flucht im Oktober 1943 hatten ihn bis zum Schluss begleitet.
Im Jahr 2017 hatte ich das Glück, als Mitarbeiterin des Bildungswerks Stanisław Hantz Semyon Rozenfeld in seiner Seniorenresidenz in der Kleinstadt Gedera mehrmals besuchen und interviewen zu dürfen. Die Offenheit, der Witz und die Gelassenheit des damals 95-Jährigen, dessen Leben so voll von Kämpfen, Verlusten und Überraschungen gewesen war, hat einen tiefen Eindruck hinterlassen, der bis heute nachwirkt.
Semyon Rozenfeld wurde 1922 in dem kleinen Dorf Terniwka im Zentrum der heutigen Ukraine geboren. 1940 wurde er, gerade achtzehnjährig, Soldat der Roten Armee. Ein Jahr später geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft, nachdem er bei heftigen Kämpfen im Baltikum verwundet worden war. Er kam in ein Arbeitslager in Minsk, von wo aus er im September 1943 schließlich in einem Transport mit etwa 2.000 Jüdinnen und Juden aus dem Arbeitslager und dem Minsker Ghetto nach Sobibor deportiert wurde.
Zusammen mit den Lagern Bełżec und Treblinka war Sobibor einer der drei Orte, an denen unter der Tarnbezeichnung „Aktion Reinhardt“ die systematische Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten ihre Umsetzung fand. Nachdem man bereits im Mai 1942 mit der Ermordung der polnischen Jüdinnen und Juden begonnen hatte, wurde die Aktion einige Monate später auch auf die jüdischen Bevölkerungen Westeuropas ausgedehnt. Allein aus den Niederlanden wurden etwa 34.000 Menschen nach Sobibor deportiert. Bei allen Lagern der „Aktion Reinhardt“ handelte es sich um reine Mordlager, ein Großteil der Eintreffenden wurde unmittelbar nach der Ankunft im Lager umgebracht. Insgesamt wurden im Zuge der „Aktion Reinhardt“ etwa 1,6 bis 1,8 Millionen Jüdinnen und Juden sowie rund 50.000 Roma ermordet, davon etwa 185.000 in Sobibor.
Diejenigen, die in eines der Lager der „Aktion Reinhardt“ deportiert worden waren, hatten praktisch keine Möglichkeit, das Lager lebend zu verlassen. Nur ein Bruchteil der Eintreffenden – oft nur eine Handvoll aus einem mehrere tausend Menschen umfassenden Transport – wurde ausgewählt, um als ZwangsarbeiterInnen im Lager den reibungslosen Ablauf der Mordmaschinerie zu gewährleisten. Und auch sie, die durch die Selektion an der Rampe und die Arbeit im Mordlager ihr Leben zumindest kurzfristig hatten retten können, wurden meist nach einiger Zeit von der deutschen Lagerbesatzung willkürlich ermordet. Dennoch gelang es einigen wenigen das Lager über- und das Kriegsende zu erleben.
Am 14. Oktober 1943 wagte eine Gruppe jüdischer ZwangsarbeiterInnen in Sobibor das nahezu Unmögliche – sie organisierten einen Aufstand, in dessen Verlauf es ihnen gelang, einen Großteil der deutschen Lagerbesatzung zu töten und eine Massenflucht in Gang zu setzen. Ungefähr die Hälfte der etwa 600 Arbeiter/innen, die sich zu diesem Zeitpunkt im Lager befunden hatten, schafften es, unter Beschuss das Lagergelände zu verlassen. Die meisten von Ihnen wurden noch in den verbliebenen Monaten bis zur Befreiung ermordet – viele von ihnen bereits in den ersten Tagen nach der Flucht im Rahmen einer großangelegten Suchaktion ihrer deutschen Verfolger. Nur 47 Menschen schafften es nach heutigem Wissensstand, ihr Leben zu retten. Semyon Rozenfeld war einer von ihnen; der Letzte noch lebende, nachdem im vergangenen Jahr bereits Arkady Wajspapir in der Ukraine und Selma Engel-Wijnberg in den USA verstorben sind.
Mit einigen anderen jüdischen sowjetischen Kriegsgefangenen, die mit dem selben Transport im Lager eingetroffen waren, hatte sich Rozenfeld aktiv an der Durchführung der Revolte beteiligt. Ziel der Aufständischen war es, in ihrem Verlauf möglichst viele der zu diesem Zeitpunkt im Lager anwesenden SS-Männer unbemerkt in den verschiedenen Arbeitsbaracken zu töten. Gemeinsam mit einem Mitgefangenen wurde Rozenfeld die Aufgabe zuteil, einen von ihnen – den berüchtigten Karl Frenzel – umzubringen. Insgesamt 11 SS-Männer sollten an diesem Tag den Tod finden, Frenzel jedoch war der einzige, der zu gegebenem Zeitpunkt nicht auffindbar war und überlebte. Eben jener Frenzel war es auch, der sich wenig später hinter einem Fass positionierte und auf die fliehenden Arbeiter schoss. Eine Ironie des Schicksals, dass eine dieser Kugeln schließlich auch Semyon Rozenfeld traf. „Der Wald war 150 Meter vom Lager entfernt. […] Mein Overall war ein bisschen kaputt, das hat mich aber nicht gestört. Ich bin wie ein Soldat gerannt, gefallen, gekrochen, gesprungen. Dann hat eine Kugel mein Bein durchschlagen. Hier habe ich eine Narbe. Den Knochen hat sie aber nicht berührt. Erst im Wald habe ich bemerkt, dass es hier nass war. Ich habe gesehen, dass überall Blut war. Meine Blutgerinnung ist gut, und mein Blut hat aufgehört zu laufen.“ (Rozenfeld im Interview mit der Autorin, November 2017)
Es ist kaum zu glauben, dass ein Mensch all dies überleben und 75 Jahre später davon erzählen kann, aufrecht in seinem Stuhl, mit dem verschmitzten Lächeln eines Helden, der keiner sein wollte. Er selbst sah sich in erster Linie als Soldat der Roten Armee, im Kampf gegen die Nationalsozialisten, koste es was es wolle. Dov Freiberg, ein anderer Überlebender des Lagers, den Rozenfeld während seiner Flucht zufällig im Wald wiedertraf und mit dem er schließlich gemeinsam die gefahrvollen, kräftezehrenden Monate bis zur Befreiung bestritt, erinnerte sich: „Kräftig, groß und zweimal so breit wie ich. Mit seinen schweren Bewegungen, wie bei einem Bär, personifizierte er das, was ich mir unter einem typischen russischen Soldaten vorstellte.“ (Freiberg, To Survive Sobibor)
Und so kam es auch, dass Rozenfeld sich nur wenige Tage, nachdem die Rote Armee im Sommer 1944 die Region befreit hatte, dazu entschied, in die Reihen der Armee zurückzukehren, und sich noch einmal aufzumachen in den Kampf gegen die sich endlich im Rückzug befindlichen Deutschen. Noch einmal wurde er verwundet und beendete seinen Krieg nach einem weiteren Lazarett-Aufenthalt schließlich in Berlin, wo er die letzten Kämpfe um die Reichshauptstadt noch selbst miterlebte und sich – wie Hunderte andere Rotarmisten – an den Wänden des eben eroberten Reichstags verewigte.
Anschließend kehrte er in seine Heimat zurück, wo er feststellen musste, dass ein Großteil seiner Familie von den Nationalsozialisten ermordet worden war. Er heiratete die Tochter eines Onkels, der es in den Reihen der Armee auf wundersame Weise gelungen war zu überleben, und das Paar lebte viele Jahrzehnte mit seinen beiden Söhnen in der Ukraine. Dann, 1990, entschied sich die Familie für die gemeinsame Emigration nach Israel, und Rozenfeld, der bereits in den Jahren davor Kontakte zu Sobibor-Überlebenden in der Sowjetunion geknüpft und öffentlich in Schulen und bei Gedenkveranstaltungen über seine Erfahrungen berichtet hatte, traf noch weitere Überlebende wieder – darunter sein ehemaliger Fluchtgefährte Dov Freiberg.
Semyon Rozenfeld hat bis zu seinem Tod nicht aufgehört, der Welt von den Schrecken der deutschen Mordlager zu berichten. Seine Erinnerungen sind für uns von unschätzbarem Wert; sein Tod hinterlässt eine Lücke, die nicht gefüllt werden kann. Nun, da auch er gegangen ist, liegt die Verantwortung bei uns, seine Geschichte zu erzählen und die Erinnerung zu wahren.