Erinnerungsarbeit ohne Zeitzeugen

Ein Interview mit Karin Graf vom Bildungswerk Stanisław Hantz e.V. Veröffentlicht im ak – zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 557 / 21.1.2011.

ak: Ein Schwerpunkt eurer Arbeit sind Reisen nach Auschwitz-Birkenau und zu anderen ehemaligen deutschen Lagern in Polen und der Ukraine – finden diese mit Zeitzeugen so noch statt?

Karin Graf: Leider, nein. Mit dem Tod vieler Zeitzeugen, mit denen wir eng zusammengearbeitet haben, ist eine Ära zu Ende gegangen. Seit Anfang der 1990er Jahre bieten wir Fahrten zu ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern in Osteuropa an.

Stanisław Hantz

Die Zeitzeugen, die noch leben, sind sehr alt und können mittlerweile aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr mitreisen. Vor zwei Jahren starben beispielsweise Stanisław Hantz, unser Namensgeber, und Henryk Mandelbaum, zwei ehemalige Auschwitzhäftlinge, die uns seit Jahren in Auschwitz-Birkenau begleitet haben. Jules Schelvis aus Amsterdam ist mittlerweile 90 Jahre alt und fährt auch nicht mehr nach Ostpolen mit.

Welche Rolle haben Zeitzeugen in eurer Arbeit gespielt?

Wir haben Zeitzeugen von Anfang eine dominante Rolle bei unseren Fahrten gegeben. Durch Zeitzeugen wird Geschichte viel unmittelbarer, wird Geschichte viel wahrer: Wenn einem jemand gegenübersteht, der geschlagen wurde, ist das etwas anderes, als wenn ich erzähle, dass jemand geschlagen wurde. Das, was ein Zeitzeuge am Ort seines Leidens erzählt, ist authentischer als alles, was über Auschwitz oder Treblinka oder irgendein anderen Ort geschrieben wurde. Die Teilnehmer konnten Stanisław Hantz etwa fragen, welche Stimme hatte der SS-Lagerführer Fritzsch oder wie groß war der eigentlich? (1) Und der konnte das beantworten: Fritzsch war ein kleiner Mann mit einer quakigen Fistelstimme. So was wissen wir gar nicht, so wird Geschichte viel näher – viel plastischer. Aus pädagogischer Sicht ist das Einbinden eines Zeitzeugen etwas besonderes, weil man bei deranspricht. Die Überzeugungskraft, die Zeitzeugen haben, ist unerreicht. Wir sind nur eine billige Kopie.

Aber Zeitzeugen liefern oft nur einen individuellen Ausschnitt von Geschichte. Ist das nicht einseitig und wenig analytisch?

Wir haben sie gezielt in unsere Bildungsarbeit eingebunden. Natürlich steht bei vielen Zeitzeugen zwangsläufig die eigene Traumatisierung im Mittelpunkt. Den historischen Rahmen, die politische Einordnung haben wir als Bildungswerk – als Pädagogen – vermittelt. Zudem haben wir versucht, mit unterschiedlichen Zeitzeugen zusammenzuarbeiten, die in ihrer Person unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte verkörpern und somit viele unterschiedliche Facetten aufgezeigt haben. Männer haben im Lager andere Erfahrungen gemacht als Frauen. Ein nicht-jüdischer polnischer Auschwitzhäftling war auf einer anderen Hierarchiestufe als ein polnischjüdischer Auschwitzhäftling oder ein jüdischer westeuropäischer Auschwitzhäftling. Da tun sich dann natürlich auch Widersprüche und Konflikte auf, die lehrreich sind.

Welche waren das?

Die Frauen haben erzählt, dass sie, wenn ihre Häftlingskleidung in Auschwitz desinfiziert wurde, nackt Appell stehen mussten. Und dann sind die Männer zum Glotzen an den Stacheldrahtzaun gegangen. Für die Frauen war das schrecklich. Das war häufiger ein Streitthema zwischen den Zeitzeugen. Oder das Verhältnis von nicht-jüdischen und jüdischen Überlebenden, osteuropäischen und westeuropäischen jüdischen Überlebenden. Es bestanden Hierarchien und Konfliktlinien während der Lagerzeit, die bis heute fortbestehen. Oft waren es aber auch Dinge, denen wir keine große Bedeutung beigemessen haben: War der Appell um fünf oder sechs Uhr? Kamen niederländische Transporte im Viehwagen oder auch im Personenzug im Lager an? Für die Betroffenen wurde das dagegen oft zu einer wichtigen Streitfrage. Dahinter stecken vielleicht Ängste: können sie richtig bezeugen, ist es wahr, was sie sagen, sind sie glaubwürdig.

Was hat sich in den letzten 15 Jahren in der Arbeit mit Zeitzeugen verändert?Konntet ihr beobachten, dass sich die Beiträge, Erzählungen und Geschichten der Zeitzeugen über die Zeit verändert haben?

Das kann man nur individuell – auf einen Zeitzeugen bezogen – beantworten. Generell kann man sagen: Die wirklich schlimmen Sachen haben sie weder uns noch einer Gruppe erzählt. Also besondere Grausamkeiten, mit denen sie uns Deutsche nicht noch mehr blamieren wollten, weil es unsere Landsleute waren von denen sie berichten, weil es sexuelle Tabus betraf oder auch vielleicht, weil sie es nicht riskieren wollten, dass wir es nicht glauben. Über die Jahre wurden die Erinnerungen bestimmt abgeschliffener, weniger detailreich, Erinnerungen anderer oder Gelesenes und Gehörtes wurden mit in die eigene Erinnerung übernommen. Dadurch, dass wir mit Stanisław Hantz so viel gearbeitet und diskutiert haben, haben wir von ihm und er von uns gelernt. Beispielsweise hat er zur Vorbereitung auf die Gruppen das Buch genommen, das ich über ihn geschrieben habe und damit seine Erinnerungen aufgefrischt.

Wie kann und wird eure Arbeit in der Zukunft – ohne Zeitzeugen – weitergehen? Wie versucht ihr diese Lücke – die ja gar nicht schließbar ist – zu füllen?

Wir haben bereits in den vergangenen Jahren unsere Reisen dem Lauf der Zeit angepasst. Das mussten wir allein deshalb, weil sich die Gesundheit der Zeitzeugen verschlechtert hatte. Heute arbeiten wir mehr mit Bildern, Zitaten und Videosequenzen. Die Themen und Ausrichtungen unserer Reisen sind andere geworden. Es geht um Frauen in Auschwitz oder die Täter in den Lagern der “Aktion Reinhardt”. (2) Unsere Reisen sind zudem nicht auf den Nationalsozialismus und die Zeit bis 1945 beschränkt, sondern gehen zeitlich weit darüber hinaus. Die Reise zu den Lagern der “Aktion Reinhard” Belzec, Sobibor und Treblinka ist mittlerweile trinational – mit Deutschen, Polen und Niederländern, bei der auch die unterschiedliche Gedenk- und Erinnerungspolitik thematisiert wird. Außerdem arbeiten wir mit Schulen und anderen Institutionen in Polen zusammen, um gemeinsam neue Gedenk- und Erinnerungsprojekte zu entwickeln.

Interview: I. Stützle, M. Zimmermann

Anmerkung:

1) Karl Fritzsch, war im Range eines SS-Hauptsturmführers als erster Schutzhaftlagerführer vom 14. Juni 1940 bis zum 1. Februar 1942 im  Stammlager Auschwitz eingesetzt.

2) Die “Aktion Reinhardt” war der Tarnname für die systematische Ermordung aller JüdInnen und Roma im von Deutschland besetzten Polen

Das Bildungswerk Stanisław Hantz e.V.

Jährlich veranstaltet das Bildungswerk Stanisław Hantz e.V. Studienreisen zu ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagern an u.a. in das ehemalige Lager Auschwitz-Birkenau. Eine weitere Frauenstudienfahrt dorthin beschäftigt sich vorrangig mit weiblichen Erfahrungen in Auschwitz auf der Verfolgten- wie auch auf der Täterinnenseite. Des Weiteren bietet das Bildungswerk regelmäßige Studienfahrten mit der niederländischen Stiftung Sobibor und dem polnischen Verein “Brunnen der Erinnerung” nach Ostpolen in die ehemaligen Vernichtungslager der so genannten “Aktion Reinhardt” – Sobibor, Treblinka und Bełżec an. Seit 2006 sind Gruppenreisen in das ukrainische Lwiv (Lemberg) dazugekommen, die sich mit dem Holocaust in Galizien auseinandersetzen. Neben den Gruppenreisen ist das Bildungswerk Stanisław Hantz in verschiedene Gedenk- und Erinnerungsprojekte involviert. 2002 initiierte das Bildungswerk beispielsweise die Gedenkallee imehemaligen NS-Vernichtungslager Sobibor in Ostpolen. Mehr Informationen zum Bildungswerk gibt es unter www.bildungswerk-ks.de

“Wenn einem jemand gegenübersteht, der geschlagen wurde, ist das etwas anderes, als wenn ich erzähle, dass jemand geschlagen wurde.”

“Männer haben im Lager andere Erfahrungen gemacht als Frauen. Ein nichtjüdischer polnischer Auschwitzhäftling war auf einer anderen Hierarchiestufe als ein polnisch-jüdischer.”

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