Wir trauern um Fania Yocheles-Brancovskaya. Sie ist am 22. September 2024 in Vilnius im Alter von 102 Jahren gestorben.
Fania wurde am 22. Mai 1922 in Kaunas geboren. Ab dem Jahr 1927 wohnte sie mit ihren Eltern in Vilnius. Hier verbrachte sie fast ihr gesamtes Leben. Im Juni 1941, nach dem Einmarsch der Deutschen, musste sie mit ihrer Familie ins Ghetto umziehen. Dort wohnten dann zwei Familien zusammen in einem winzigen Durchgangszimmer.
Die Atmosphäre im Ghetto war angespannt. Immer wieder ermordeten die Deutschen Jüdinnen und Juden. Vor allem junge Menschen beschlossen zu kämpfen. Fania war eine von ihnen. Sie organisierte sich in der FPO – der Vereinigten Partisanenorganisation (Fareynikte Partisaner Organisatzije). In einer kleinen Zelle von drei Personen bereitete sie sich hier auf den Kampf gegen die Deutschen vor. Wenn das Ghetto geräumt werden sollte, wollten sie sich und das Ghetto verteidigen. Sie brachten Waffen ins Ghetto, schrieben Flugblätter, diskutierten über die Lage und verübten Anschläge auf die Infrastruktur der Besatzer. Als die Deutschen im Sommer 1943 jedoch ihren mörderischen Plan umsetzen, das Ghetto auflösen und die Einwohner*innen verschleppen wollten, hatten die Ghettokämpfer*innen der brutalen Gewalt nicht viel entgegen zu setzen. Daraufhin entschloss sich die 21jährige Fania gemeinsam mit anderen Frauen in den Rudnicki-Wald zu gehen, wohin sich bereits einige andere durchgeschlagen hatten.
Hier überlebte Fania die Besatzungszeit bis zur Befreiung 1944.
Sie kehrte nach Vilnius zurück, als einzige Überlebende ihrer Familie. Viele andere entschieden sich jetzt, das Land zu verlassen. Fania jedoch blieb in Vilnius, das jetzt die Hauptstadt der litauischen Sowjetrepublik war. Sie heiratete und gründete eine Familie.
Ein scheinbar normales Leben begann. Eine Verarbeitung des individuellen Leids, der Ängste, Nöte, Entbehrungen und Erniedrigungen fand im gesellschaftlichen Leben in der Sowjetunion keinen Raum. Die meisten entschlossen sich jetzt zu schweigen. Fania teilte ihre Erlebnisse mit ihrer jungen Familie. Als sie 99 Jahre alt wurde kommentierte sie dies so:
„Viele, die in den Ghettos und verschiedenen Lagern überlebten, sagten nichts zu ihren Liebsten. Blieben eine lange Zeit still… konnten nicht sprechen. Und ihre Kinder wussten nicht, was sie durchgemacht hatten. Und nur in den letzten Jahren begannen viele, nach Paneriai zu kommen. Sie fingen an zu sprechen. (…) Meine Kinder wurden geboren … Ich habe ihnen vom ersten Tag an berichtet.
Interview mit Neringa Latvyte für die Ausstellung Healing Wounds of Soul. Personal Storys of the Women Holocaust Survivors, 2021
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der litauischen Unabhängigkeit begann Fania der Welt ihre Geschichte zu erzählen. Sie teilte ihre Erlebnisse mit unzähligen Menschen, die nach Vilnius kamen und sie befragten. Das Ghetto, der Mord an den Jüdinnen*Juden und der Kampf gegen die Deutschen verließen sie nie. In den letzten 15 Jahren war sie schließlich die einzige noch lebende litauisch-jüdische Partisanin, die davon erzählen konnte. Als wir Fania im Jahr 2010 kennenlernten, war sie sofort bereit mit uns in den Wald zu fahren, in dem sie gekämpft hatte und von ihren Erlebnissen zu sprechen. Für uns wie für die Teilnehmenden unserer Reisen war dies eine besondere Erfahrung, wenn sie in jiddischer Sprache von der Flucht aus dem Ghetto, von dem Leben im Wald und von der Befreiung sprach.
Fania mit Gruppen des Bildungswerks bei der ehemaligen Basis der jüdischen Partisan*innen in den Rudnicki-Wäldern.
Fania, wir sind dir sehr dankbar! Du wirst uns fehlen und in unseren Herzen und Worten weiter leben.