Auf der diesjährigen Bildungsreise an Orte der Shoah in Litauen begleiteten uns immer wieder Texte, Gedichte und Lieder von Shmerke Kaczerginski und Masha Rolnikaite. Beide verarbeiteten die Gräuel von Ponar literarisch.
…einen ganzen Tag werden Menschen aus den Häusern getrieben, verjagt.
Auszug aus einem Gedicht (Anfang 1942) von Masha Rolnikaite
Die Menschen sind gegangen und haben gefragt:
„Wohin, wo führt der Weg hin?“
„Eine Arbeitsstadt gibt es bei Ponar!“
Lacht einer von denen des Zaren:
„Bei Abraham, im Himmel, dort,
ist für Euch der beste Ort!“
Masha Rolnikaite, von den Sowjets als „Anne Frank der Sowjetunion“ vereinnahmt, wusste also schon relativ früh über die Rolle von Ponar als Ort des Massenmordes an den Jüdinnen und Juden von Wilna/Vilnius Bescheid. Andere Gefangene des Ghettos wollten der Realität nicht ins Auge sehen und suchten Trost im Glauben an: „Wir werden als Arbeiter gebraucht.“
Von den 60.000 Jüdinnen und Juden die 1939 in Vilnius lebten, überlebten 2000 den Holocaust. Alle anderen wurden von Deutschen und ihren litauischen Helfern ermordet, ein Großteil davon in Ponar. Dort existieren 18 Gedenkorte unterschiedlicher Opfergruppen, zum Beispiel Jüdinnen und Juden, sowjetische Kriegsgefangene, Pol:innen, Litauer:innen, Rom:nja und andere mehr. Wir als Reisegruppe des Bildungswerkes Stanisław Hantz gedachten dieses Mal den Jüdinnen und Juden der Wilnaer Zwangsarbeitslager, die nach Ponar verschleppt und dort ums Leben gebracht wurden. Am Gedenkstein, gestiftet von der Überlebenden Rachel Margolis, deren Vater eines der Opfer war, legten wir Blumen nieder. Eine Mitreisende sang auf jiddisch das Lied von Shmerke Kaczerginski: „Shtiler, Shtiler“.
Margolis wie Kaczerginski waren während ihrer Zeit im Ghetto im jüdischen Widerstand der Fareinikte Partisaner Organisatzije (FPO) organisiert. Nach dem Aufstandsversuch verschiedener Widerstandsgruppen während der Liquidierung des Ghettos Wilna gelang beiden die Flucht in die Wälder, wo sie mit und unter den sowjetischen Partisan:innen kämpften.
Shtiler, Shtiler
SShtiler, shtiler, lomir shvaygn
Kvorim vaksn do.
S’hobn zey farflantst di sonim:
Grinen zey tsum blo.
S’firn vegn tsu ponar tsu,
S’firt keyn veg tsurik,
Iz der tate vu farshvundn
Un mit im dos glik.
Shtiler, kind mayns, veyn nit, oytser,
S’helft nit keyn geveyn,
Undzer umglik veln sonim
Say vi nit farshteyn .
S’hobn breges oykh di yamen,
S’hobn oykhet tfises tsamen,
Nor tsu undzer payn
Keyn bisl shayn.
Friling afn land gekumen,
Un undz harbst gebrakht.
Iz der tog haynt ful mit blumen,
Undz zet nor di nakht.
Goldikt shoyn der harbst af shtamen,
Blit in undz der tsar,
Blaybt faryosemt vu a mame,
S’kind geyt af ponar.
Vi di vilye a geshmidte
T’oykh geyokht in payn,
Tsien kries ayz durkh lite
Glaykh in yam arayn.
S’vert der khoyshekh vu tserunen
Fun der fintster layktn zunen
Rayter, kum geshvind
Dikh ruft dayn kind.
Shtiler, shtiler, s’kveln kvaln
Undz in harts arum.
Biz der toyer vet nit faln
Muzn mir zayn shtum.
Frey nit, kind, zikh, s’iz dayn shmeykhl
Itst far undz farrat,
Zol dem friling zen der soyne
Vi in harbst a blat.
Zol der kval zikh ruik flisn
Shtiler zay un hof…
Mit der frayheyt kumt der tate
Shlof zhe,kind mayn, shlof.
Vi der vilye a bafrayte,
Vi di baymer grin banayte
Laykht bald frayheyts-likht
Af dayn gezikht,
Af dayn gezikht.
Shmerke Kaczerginski: Churbn Wilne, S. VIII, gefunden auf: http://www.musiques-regenerees.fr
Stiller, Stiller
Stiller, stiller, lasst uns schweigen
Gräber wachsen hier.
Es haben sie gepflanzt die Feinde:
So wachsen sie zum Himmel.
Wege führen nach Ponar,
Es führt kein Weg zurück,
Der Vater ist wohin verschwunden
Und mit ihm das Glück.
Still, mein Kind, wein nicht, mein Schatz,
Es hilft nicht, das Weinen,
Unser Unglück werden die Feinde
Ohnehin nicht verstehen.
Es haben Ufer auch die Meere,
Es haben Zäune auch die Gefängnisse,
Nur unser Schmerz
ist grenzenlos.
Frühling ist ins Land gekommen,
hat uns Herbst gebracht.
Ist der Tag heut voller Blumen,
Uns sieht nur die Nacht.
Vergoldet schon der Herbst die Bäume,
In uns blüht der Kummer,
Bleibt verwaist die Mutter zurück,
Das Kind geht nach Ponar.
Wie die Neris bezwungen wurde
Hat der Schmerz uns unterjocht,
Es ziehen Eisschollen durch Litauen
Gleich in das Meer herein.
Es wird die Dunkelheit verschwinden
Von der finster leichten Sonne
Reiter, komm geschwind
Dich ruft dein Kind.
Stiller, stiller, es sprudeln Quellen
In unseren Herzen herum.
Bis das Tor nicht gefallen sein wird
Müssen wir stumm sein.
Freu dich nicht, Kind, es ist dein Lächeln
Jetzt für uns Verrat,
Es soll den Frühling sehen der Feind
Wie den Herbst ein Blatt.
Soll die Quelle ruhig fließen
Sei stiller und hoffe…
Mit der Freiheit kommt der Vater
Schlaf doch,mein Kind, schlaf.
Wie die Neris befreit ist,
Wie die Bäume neu ergrünen
Leuchtet bald Freiheits-Licht
Auf deinem Gesicht,
Auf deinem Gesicht.