Im Alter von 85 Jahren starb er nach einer schweren Krankheit in der Nacht zum 17. Juni 2008.
Henryk Mandelbaum wuchs als Kind einer jüdischen Metzgerfamilie in der polnischen Vorkriegszeit in verarmten Verhältnissen auf. Er durchlebte den Holocaust von seinen Anfängen bis zu seinem Ende. Verfolgung der polnischen Juden, Unsicherheit, Angst, Repressalien, Ghettoisierung und schließlich die Deportation nach Auschwitz.
Fast seine gesamte Familie wurde durch die Nationalsozialisten ermordet.
Im Sommer 1944 wurde Henryk Mandelbaum nach Auschwitz verschleppt. Und gezwungen, im sogenannten Sonderkommando zu arbeiten. Einem Arbeitskommando, das, von den übrigen Häftlingen isoliert, die Ermordeten aus den Gaskammern holen und ihre Leichen verbrennen musste. Er überlebte diese Arbeit und diese Zeit. Überlebte die ständigen Schikanen und Selektionen in seinem Kommando. Er überlebte den Aufstand des Sonderkommandos im Oktober 1944 und die darauffolgenden Erschießungsaktionen der SS. Henryk Mandelbaum überlebte den sogenannten Todesmarsch, die Evakuierung der Auschwitz-Häftlinge in den Westen. Schließlich gelang ihm die Flucht.
Einige Zeit glaubte er, er sei der einzige Überlebende des Sonderkommandos.
Henryk Mandelbaum kehrte nach Polen zurück, wo er heiratete und bis zu seinem Tode lebte.
Er wählte das Leben in Polen, im Land seiner Lebenskatastrophe. Er blieb als Jude in einem vom Katholizismus geprägten Land.
Zeit seines Lebens schlug er sich durch. Henryk Mandelbaum führte ein unstetes Leben, wechselte vielfach die Arbeitsstellen, begann immer wieder neue Projekte. Sein Leben war von seinen Erfahrungen gezeichnet und von zahlreichen Eigentümlichkeiten begleitet.
Ein trauriger Mensch mit einem unbändigen Lebenswillen.
Henryk Mandelbaum stellte sich seinen Erfahrungen.
Er nahm am Prozess gegen seine Peiniger teil und sagte gegen SS-Männer aus. Auf der verzweifelten Suche nach Gerechtigkeit oder auch Rache für das, was ihm und seinen Kameraden angetan worden war.
Schon früh begann er, über seine Erlebnisse, über seine Verfolgungsgeschichte öffentlich zu sprechen.
Über viele Jahre begleitete Henryk unsere Arbeit.
Bereitwillig kam er in die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, wenn wir ihn darum baten. Er traf sich mit unseren Studiengruppen an den Ruinen der Vergasungsanlagen, um über seine Zeit dort zu erzählen.
Mit tiefer Selbstverständlichkeit ignorierte er die Schilder, die ein Betreten der ehemaligen Krematorien untersagten: dies war sein Erinnerungsort.
Er sprach von seiner Arbeit. Von organisatorischen Problemen, sie zu bewältigen. Von der körperlichen Anstrengung. Von den Details des Vernichtungsapparates. Wie funktionierte die Technik. Welche Rolle war wie an der Trage angebracht, um die Ermordeten schnellstmöglich in den Ofen schieben zu können. Wie griff man die Toten, um sie zu den Verbrennungsgruben zu schleppen. Welche Leichen verbrannten langsam, welche rasch.
Henryk redete sich in die Vergangenheit zurück, tauchte tief ein und hatte keine Ruhe, keinen Abstand, auf die Übersetzung zu warten. Polnischer Wortschwall, durchsetzt mit den deutschen Wörtern ‚verstehst du mich!’; keine Frage, sondern eine schrill fordernde Anweisung. Für seine ÜbersetzerInnen war er stets eine Herausforderung.
Ein unzähmbarer Drang dem Vergangenen nachzugehen beschleunigte seine Bewegungen. Er bückte sich, zog, schleppte und schob. Da waren Dinge, Situationen, die nur er sehen konnte. Sein Gesicht färbte sich rot, die Stimme wurde drängend, die Bewegungen voller Intensität. Er wollte, dass wir ihm folgten, ihn begleiteten in seine erschreckende Vergangenheit.
Von seinen Gefühlen, von seinen Gedanken sprach er wenig.
Mehrere Jahre brauchte es, bis wir die Foto-Ausstellung ‚Nur die Sterne waren wie gestern’ über Henryk fertiggestellt hatten.
Zahlreiche Lücken wollten gefüllt werden. Henryk war ein unmittelbarer Mann. Eine intellektuelle Aufarbeitung seiner Geschichte war ihm fremd. Er berichtete wie er es erlebt hatte. Schnell war er müde, ungehalten über die vielen Nachfragen, die Versuche, seine Geschichte einzuordnen. Das viele Posieren für die Fotos forderte all seine Geduld.
Noch in den letzten Jahren nahm er die Strapazen auf sich und reiste mehrmals nach Deutschland. Machte mit uns Veranstaltungen.
Viele kamen, um ihn zu sehen, ihn zu erleben und seine Geschichte zu hören.
Immer wieder erzählte er von seinen Erfahrungen, seinen Erlebnissen, von seiner persönlichen Geschichte, von seiner Familie. War bereit, sich den Fragen des Publikums zu stellen.
Und er genoss die Aufmerksamkeit und das Mitgefühl, die ihm und seiner Leidensgeschichte entgegengebracht wurden. Den Respekt, der ihm und seinen Erlebnissen gezollt wurde.
Henryk ist tot.
Mit Henryk Mandelbaum stirbt einer der letzten in Europa lebenden ehemaligen Sonderkommando-Häftling von Auschwitz-Birkenau. Sein Tod kennzeichnet das Ende einer Ära.
Gestorben ist ein Mensch, der sich bereit fand, über seine leidvollen Erfahrungen zu erzählen. Ein Mensch, der Geschichte aus ihrer anonymen Dimension beförderte und einen subjektiven, persönlichen Blick eröffnete. Ein Mensch, der uns mit der Vergangenheit verband.
Mit Henryk ist ein wichtiger Begleiter unserer Arbeit gestorben. Ein Zeitzeuge, der auch irritierte. Der seine ZuhörerInnen herausforderte, sich mit den eigenen Klischees von einem Überlebenden auseinander zu setzen.
Ein Mensch, der schwer an seiner Geschichte zu tragen hatte und doch die Lebenskraft nicht verlor.
Sein Tod ist ein schwerer Verlust für uns. Er hinterlässt eine nicht zu füllende Lücke.
Wir trauern um Henryk Mandelbaum. Er wird uns fehlen.
Gedenkfahrt
Vom 5. bis 9. Februar 2009 veranstalten wir eine Gedenkfahrt für Stanisław Hantz und Henryk Mandelbaum nach Auschwitz. Wir werden alle für sie wichtigen Plätze noch einmal besuchen und von unseren Begegnungen erzählen. Mit auf dem Programm stehen unveröffentlichte Filmaufnahmen. Wenn es die Gesundheit von Regina Hantz erlaubt, wird sie unsere Reise begleiten. Wer mitkommen will, meldet sich bitte bei uns schriftlich oder per email an.
Bäume der Erinnerung
Wir wollen einen Erinnerungsbaum für Stanisław Hantz und für Henryk Mandelbaum auf dem Gelände der Internationalen Begegnungsstätte pflanzen. Spenden sind herzlich willkommen.