In Gedenken an Jules Schelvis

Am 7.1. 2021 würde Jules Schelvis (* 7. Januar 1921 in Amsterdam | † 3. April 2016 in Amstelveen) 100 Jahre alt.

Herzlichen Glückwunsch Jules,

als du vor 100 Hundert Jahren, am 7. Januar 1921, als zweites Kind von Esther und Jacob Schelvis, in Amsterdam geboren wurdest, konnte niemand voraussehen, wieviel Entschlossenheit und Glück du brauchen wirst, um deinem Tod im Holocaust zu entgehen. 1939 hattest du deine Ausbildung als Drucker abgeschlossen. Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande im Mai 1940 warst du den antijüdischen Maßnahmen der Nazis ausgesetzt. Als Jude musstest du 1941 deinen Arbeitsplatz in der Druckerei aufgeben. Und als die Niederlande „judenrein“ werden sollten, warst du zeitweise mit deiner Frau Rachel untergetaucht. Eure gepackten Rucksäcke waren immer griffbereit. Am 1. Juni 1943 seid ihr mit 3.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern, in einen Güterzug gestiegen. Mit dabei waren auch Rachels Eltern und Geschwister. Nach eurer Ankunft in der Mordstätte Sobibor wurdest du von Rachel und ihrer Familie getrennt. Sie wurden in den Gaskammern getötet. Du wurdest zur Zwangsarbeit in einem Torflager bestimmt. Über Lublin und das Ghetto Radom kamst du schließlich nach Auschwitz. Und warst zum zweiten Mal dem Vergasungstod entkommen: du wurdest zur Arbeit nach Deutschland geschickt. Am 8. April 1945 befreiten dich die Alliierten in der Nähe von Stuttgart.

Jules Schelvis

Von den 3.000 Menschen, die mit dir im Juni 1943 nach Sobibor verschleppt wurden, warst du der Einzige, der wieder nach Hause gekommen ist. Doch zurück in den Niederlanden musstest du feststellen, dass die Gesellschaft an deinem Leidensweg nicht interessiert war. Sie war zu sehr mit dem unter der deutschen Besatzungszeit selbst erlebten beschäftigt. Den 22.000 Toten im Hungerwinter 1944/45. Du hattest dich dann über viele Jahrzehnte entschieden, zum Holocaust zu schweigen. Du wolltest ein neues Leben beginnen, ohne die Hypothek der Vergangenheit. Johanna Leevending wurde 1946 deine Frau. Ihr habt zwei Kinder, drei Enkelkinder und auch drei Urenkel bekommen. Du hattest wieder als Drucker angefangen zu arbeiten und wurdest schließlich Technischer Leiter beim Algemeen Handelsblad in Rotterdam. In der Freizeit hast du dich der Musik, dem Malen und Schnitzen gewidmet. Und dann passierte es. 1981 zu deiner bevorstehenden Pensionierung schrieb ein Kollege im Handelsblad einen ausführlichen Artikel über dein Leben. Danach konntest du die Erinnerungen nicht wieder verschließen. Sobibor, die Ankunft dort und alle Ereignisse in sechs weiteren Lagern hattest du in deinem Buch „Binnen de Poorten“ beschrieben, welches 1982 veröffentlicht wurde. 1993 erschein dein Buch „Vernichtungslager Sobibor“. Ein Standardwerk und bis heute die einzige umfassende, wissenschaftliche Darstellung der Geschichte von Sobibor. 1998 wurde das Buch in Deutschland herausgegeben. Mit der Veröffentlichung des Buches erfuhren wir von deiner Existenz. Wir nahmen Kontakt zu dir auf und schließlich standen wir in Tricht vor deiner Haustür. Jahre später hattest du uns erzählt, dass du sehr skeptisch warst und dachtest, was wollen die zwei Deutschen wohl von mir. Wir hatten dir erzählt, dass wir im nächsten Monat eine Bildungsreise nach Sobibor unternehmen und du wolltest wissen, was wir dort gesehen haben. So standen wir zwei Monate später wieder vor deiner Haustür. Es war der Beginn einer Freundschaft, die auch mit deinem Tod am 3. April 2016 nicht endete.

Jules Schelvis schrieb seine Erinnerungen unter dem Titel “Es fuhr ein Zug nach Sobibor auf:

Am 1. Juni 1943 fuhr er aus Westerbork ab, vollgestopft mit 3006 Juden in fünfzig Viehwagons. Niemand von uns wusste, was uns nach einer nervenaufreibenden Fahrt, die 72 Stunden dauern würde, erwartete. Das Ziel sollte ein Arbeitslager sein, wie man es uns in den Niederlanden weisgemacht hatte. Dieser Transport vom 1. Juni 1943 war, wie sich später herausstellen sollte, einer der größten in einer Reihe von neunzehn Transporten von den Niederlanden nach Sobibor, einem deutschen Vernichtungslager auf polnischem Territorium. Der kaum bevölkerte Weiler liegt im östlichen Teil von Polen, der von den Deutschen seinerzeit Generalgouvernement genannt wurde. In der Zeit vom 2. März bis 20. Juli 1943 wurden 34.313 Juden aus unserem Land nach Sobibor deportiert. Von ihnen haben nur achtzehn den Krieg überlebt, in der Geschichte der Lager eine beispiellos niedrige Anzahl. Nach dem Krieg stellte sich heraus, dass ich der einzige Überlebende meines Transports war.

Jules Schelvis

Der Text wurde am 25.9. in der Gedenkstätte Zellentrakt in Herford aufgezeichnet. Er ist hier zu sehen unter: https://www.kanal-21.tv/reportagen/search?query=sobibor

Nach oben scrollen