Rede zur Eröffnung der Ausstellung in Göttingen

Göttingen, 09. Januar 2009

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freundinnen und Freunde! Sehr geehrte Damen und Herren,

Treblinka steht für die Vernichtung von 700.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern. Mit Motorabgasen wurden sie von den Deutschen ermordet – zwischen Juli 1942 und August 1943, in gerade einmal etwas mehr als einem Jahr. Weniger als 70 der Häftlinge überlebten ihre Deportation in das nationalsozialistische Vernichtungslager. Einer von ihnen ist Samuel Willenberg. Vor acht Jahren hat er begonnen, seine Erinnerungen an das Todeslager in den Bronzeplastiken zu verarbeiten, die wir heute hier sehen.
Er sagt: „Ich wollte einfach verdeutlichen und noch stärker ausdrücken was dort passiert ist. (…) In dem Moment, als ich begann zu bildhauern, kamen die Bilder wieder zurück. Wieder sehe ich den Scheißmeister vor der Toilette stehen. Ich sehe die Umzäunung aus Stacheldraht, in den grüne Zweige geflochten sind. Ich sehe das Lazarett, die Grube, ich sehe die aus Holz gebaute Rampe, auf die sie Alte, Kinder und behinderte Menschen gesetzt und erschossen haben. In der Grube brannte ein Feuer, ein Feuer nur aus Leichen.“

Samuel Willenberg wurde 1923 in Polen geboren, als Sohn eines jüdischen Synagogenmalers und einer russisch-orthodoxen Mutter. 1942, im Alter von 19 Jahren, deportierten ihn die deutschen Besatzer nach Treblinka. Dem sicheren Tod entging er nur, weil er in dem Vernichtungslager zur Sklavenarbeit eingeteilt wurde. Am 2. August 1943 gelang ihm die Flucht, als er zusammen mit den anderen Häftlingen im Lager den Aufstand wagte. Nach dem Krieg wanderte er nach Israel aus, wo er vierzig Jahre lang im Entwicklungsministerium arbeitete. Nach seiner Pensionierung begann er seine zweite Karriere als Künstler: Er studierte Malerei, Bildhauerei und Kunstgeschichte in Tel Aviv. Seine Skulpturen zeigen Menschen und Szenen aus Treblinka. Seine Werke wurden bereits in Ausstellungen im Palast des israelischen Präsidenten in Jerusalem oder der polnischen Nationalgalerie in Warschau gezeigt.

„Die Plastiken“, sagt er, „sind so etwas wie Skizzen. Das, was sich im Lager abgespielt hat, kann man nicht wirklichkeitsgetreu abbilden. Irgendeine abstrakte Form könnte es ebenfalls nicht darstellen. Das eine wie das andere würde die Leute beleidigen, die dort waren und umkamen.“ Willenberg zeigt das Grauen, aber keine Leichenberge: „Es wäre eine Schändung, wenn ich die Toten zeigen würde. Das sind Sachen, an die ich mich erinnere, aber die kann man nicht nachbilden, das ist zu makaber.“
Wir halten es für die Pflicht (auch und gerade für eine antifaschistische Linke!), uns mit dem auseinanderzusetzen, was uns die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung zu sagen haben – auch wenn sie nicht (oder nicht mehr) persönlich bei uns sein können. Mit der Ausstellung hier in Göttingen wollen wir deshalb nicht nur den Künstler Willenberg würdigen, sondern auch den Holocaust-Überlebenden, gewissermaßen, „zu Wort kommen lassen“ – nämlich durch seine Skulpturen.
Wir wollen mit der Ausstellung aber auch ein Zeichen setzen gegen einen Umgang mit der deutschen Vergangenheit, der den Holocaust immer mehr in den Hintergrund treten lässt. Wir müssen feststellen: Die Opfer des industriellen Massenmords an den europäischen Jüdinnen und Juden werden heute immer öfter mit deutschen Bombentoten und Vertriebenen in eins gesetzt. Ein durchaus bequemes Geschichtsbild: Denn wenn alle irgendwie Opfer waren, kann es keine Täterinnen und Täter gegeben haben­. Schuld ist dann – wie man bei Guido Knopp eindrucksvoll besichtigen kann – nur noch eine Handvoll Wahnsinniger: Hitler und seine kleine nationalsozialistische Führungsclique. Und nicht etwa die Mehrheit der deutschen Bevölkerung.

Im allgegenwärtigen Gerede von den „zwei deutschen Diktaturen“, das auch die derzeitige Bundesregierung zur Grundlage ihrer Erinnerungspolitik gemacht hat, wird der Nationalsozialismus zudem verharmlost, indem er mit dem DDR-Regime dreist und falsch auf eine Stufe gestellt wird. Für wie beliebig der Holocaust mittlerweile zu gelten scheint, haben führende Repräsentanten von Staat und Wirtschaft in der jüngsten Finanzkrise gezeigt: zum Beispiel als Ifo-Chef Hans-Werner Sinn kurzerhand Managerschelte mit Judenverfolgung gleich setzte; oder als der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff wenig später von einer „Pogromstimmung“ gegen Banker schwadronierte. Nur Ausrutscher? Wohl nicht. Eher ein Zeichen dafür, wie weit die schleichende Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen schon vorangeschritten ist.
Gegen derartige Umdeutungen der deutschen Geschichte wehren wir uns: Die Skulpturen von Samuel Willenberg machen unmissverständlich deutlich, dass der Holocaust singulär ist. Dass er ein unvergleichliches und einzigartiges Menschheitsverbrechen war, mit dem Deutschland eine untilgbare Schuld auf sich geladen hat.

Zwar ist es seit der rot-grünen Bundesregierung in der deutschen Erinnerungspolitik üblich geworden, die Nazi-Verbrechen nicht mehr zu verschweigen, sondern sich offensiv zu ihnen zu bekennen. Doch mit dem beständigen regierungsoffiziellen Gedenken an den Holocaust soll die Vergangenheit vor allem in Dienst genommen werden: Deutschland gedenkt und präsentiert sich als geläutert, um damit auch machtpolitisch seine führende Rolle in der Welt zu beanspruchen: Kriegseinsätze werden mit der besonderen Verantwortung Deutschlands gerechtfertigt, die Bundeswehr dabei zur antifaschistischen Armee umgelogen. Früher versuchte man, die Last der NS-Verbrechen loszuwerden, indem man sie verschwieg, indem man ein Ende der Aufarbeitung forderte, den viel zitierten Schlussstrich unter die Vergangenheit. Heute haben sich die Mittel geändert, doch das Ziel ist gleich geblieben: Der Holocaust soll Deutschland nicht länger behindern. Deutschland und die Deutschen verzeihen sich selbst; die Bürde der Vergangenheit soll zum Standortvorteil werden. Doch auch das ist eine Umdeutung, die nicht hinzunehmen ist. Ein Schlussstrich nämlich mit anderen Mitteln.

Denn verzeihen könnten nur die Opfer. Und auch dazu hat Samuel Willenberg uns etwas Eindeutiges zu sagen: „Verzeihen kann ich nicht. Man kann jemandem verzeihen, der aus Versehen etwas Schlechtes gemacht hat, aber nicht, wenn er das aus Absicht und mit Zufriedenheit getan hat. (…) Wir klagen das ganze Volk an. Es interessiert mich nicht, ob die Schuld von den Vätern auf die Kinder übergeht. Sie haben unsere Kinder, Alten, eben alle getötet.“

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde!

Die Vergangenheit ist nicht vergangen. Antisemitismus ist auch hierzulande immer noch weit verbreitet: Bei einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung im Jahr 2006 offenbarten sich zehn Prozent der befragten Deutschen als Antisemiten. Und die Zustimmung zu einzelnen eindeutig judenfeindlichen Statements lag sogar noch deutlich höher.
Der Staat Israel muss immer noch um sein Existenzrecht kämpfen. Dabei ist er aus der Erfahrung des Holocaust entstanden, als der erste echte Schutzraum für Jüdinnen und Juden in aller Welt. „Israel“, sagt Samuel Willenberg, „muss stark sein, damit es nicht noch einmal zur Vernichtung kommen kann.(…) Die Juden in der Diaspora haben jetzt für alle Fälle einen Ort, wohin sie fliehen können. Sie haben den Staat Israel. Wir hatten keinen Ort, an den wir hätten fliehen können.“

Samuel Willenberg hat für sein Leben und für seine Freiheit gekämpft, auch mit der Waffe in der Hand. Nach dem Aufstand in Treblinka und seiner Flucht schloss er sich in Warschau einer polnischen Untergrundarmee gegen die deutsche Besatzung an. Mit der Ausstellung wollen wir deshalb auch den Widerstandskämpfer Willenberg würdigen. Wir wollen betonen: Bewaffneter Widerstand gegen das mörderische Deutschland war immer und in jeder Form legitim. Das klingt selbstverständlich, ist es aber auch mehr als 60 Jahre nach der Befreiung der Welt vom Nationalsozialismus leider keineswegs. In Litauen ermittelt die Staatsanwaltschaft derzeit wegen angeblicher Kriegsverbrechen von Partisanen im zweiten Weltkrieg. Auf den Vernehmungslisten stehen dabei ausschließlich jüdische Namen. Gegen einheimische Nazi-Kollaborateure wurde in Litauen dagegen noch nie etwas unternommen. Ein Skandal. Doch auch in Deutschland wird bewaffneter Widerstand – jenseits des Hitlerattentats vom 20. Juli 1944 – nach wie vor gerne in den Ruch des Verbrecherischen gebracht. Selbst hochrangige Bundeswehrsoldaten pflegen Kriegsverbrechen der Wehrmacht als verständliche Reaktion auf den vermeintich grausamen Partisanenkrieg zu erklären. Beim alljährlichen Pfingsttreffen der Gebirgstruppe im bayrischen Mittenwald, wenn alte und junge Soldatinnen und Soldaten gemeinsam ihrer toten Kameraden aller Generationen gedenken, gehört derlei Schuldabwälzung zur Tagesordnung. Partisanen als die eigentlichen Kriegsverbrecher – was für eine Verdrehung von Ursache und Wirkung!

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde!

Wie in Deutschland die nationalsozialistische Vergangenheit gesehen wird, bestimmt nicht zuletzt das Fernsehen. Guido Knopp adelt im ZDF auch Mitläufer und Täter zu sogenannten „Zeitzeugen“, indem er ihr Zeugnis unterschiedslos neben das der Opfer stellt. Er macht Geschichte zu etwas leicht Konsumierbarem, das allenfalls ein wohliges Schaudern zurücklässt. Mit den Bronzeskulpturen von Samuel Willenberg – mit der „Kunst der Erinnerung“ – setzen wir den massenmedialen Bildern des Guido Knopp andere Bilder entgegen. Sie legen Zeugnis ab vom Geschehenen, sind Erinnerung, Gedenken und Mahnung. Und sie ermöglichen eine aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

Vielen Dank

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