„Sicher glaubt ihr mir nicht“

Auf Erkundungsreise nach Lemberg. Der Artikel über die Bildungsreise in die Ukraine im Jahr 2007 beschäftigt sich vor allem mit Lili Pohlmann, die als Kind das Ghetto in Lemberg überlebte und an der Reise teilnahm. Veröffentlicht wurde der Artikel im Herbst 2007 in dem postOSTBLOCK-magazin ‚Laika‘.

Seit mehreren Jahren bieten wir, das Bildungswerk Stanisław Hantz e.V., Bildungsreisen nach Polen an. Auf diesen Reisen erkunden wir die Geschichte der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die Nationalsozialisten. Wir wollen verstehen, wie die deutsche Vernichtungsmaschinerie arbeitete, und vor allem auch das Schicksal der Menschen kennenlernen, die verfolgt, erniedrigt und ermordet wurden. Erlebnisberichte, Briefe und Dokumentationen an den Originalschauplätzen zu präsentieren, ermöglicht ein Verständnis von dem, was vor nun bereits 65 Jahren in Europa passierte. Der Kontakt mit Überlebenden und ihre Erzählungen sind deshalb ein unerlässliches Element unserer Reisen.

Lili Pohlmann
Lili Pohlmann in Lemberg 2007

Vor zwei Jahren entstand die Idee, eine Bildungsreise nach Lemberg zu organisieren. Da wir bereits seit Jahren Fahrten auf den Spuren der Aktion Reinhardt nach Ostpolen organisieren, interessierte uns immer mehr auch die Situation auf der anderen Seite der polnisch-ukrainischen Grenze. Immerhin wurde der größte Teil der 110.000 jüdischen BewohnerInnen der Stadt Lemberg zur Vernichtung ins deutsche Vernichtungslager Bełżec deportiert.

Die Umsetzung der Idee erschien anfänglich fast unmöglich. Wie sollten wir, eine kleine non-profit-Organisation, eine Reise aus fast 2000 Kilometern Entfernung organisieren? Wir kannten weder die aktuelle gesellschaftlich-politische Situation in der Ukraine, noch dachten wir in der Ukraine auf viel Interesse zu stoßen, da es nur wenig Erinnerungskultur an den Holocaust gibt. Ist es möglich, Kontakte zur jüdischen Bevölkerung Lembergs zu knüpfen? Wie reagieren die Menschen an diesem Ort auf unser Interesse? Ohne die Mithilfe von Robert Kuwałek, dem Leiter der Gedenkstätte Belzec, mit dem wir in Polen schon länger zusammenarbeiten, wäre unsere Idee wohl eine Idee geblieben. Robert jedoch, der selber seine Fühler in die Ukraine ausstreckt und auch Ukrainisch spricht, vermittelte uns nicht nur Kontakte zu Menschen in Lemberg, die uns unterstützten, sondern erzählte uns unter anderem auch von einer Überlebenden des Holocausts in Lemberg, die er auf einer Konferenz in Lemberg kennengelernt hatte – Lili Pohlman.

Das Thema der Konferenz war das umstrittene Verhalten des ehemaligen Metropoliten Szepticki gewesen. Dieser hatte zwar einerseits anfänglich die deutsche Besetzung begrüßt, andererseits aber auch über 150 jüdische Menschen gerettet, unter ihnen Lili und ihre Mutter, indem er ihnen ein Versteck organisierte.

Lili Pohlmann, die bei der Befreiung Lembergs und Ostgaliziens 1944 9 Jahre alt war, kehrte im Jahr 2005 erstmals nach Lemberg zurück, weil es ihr am Herzen lag, ein Wort für den Metropoliten einzulegen, der schließlich auch ihr Leben gerettet hatte, dafür aber bis heute keine Anerkennung bekommen hat.

Lili gelang es 1943 bei einer der großen Aktionen im Lemberger Ghetto zu fliehen. Ihre Mutter, die zu dem Zeitpunkt bei der deutschen Zivilverwaltung arbeitete, fragte eine der deutschen Angestellten, ob sie Lili nicht bei sich aufnehmen könnte. Eine schier unmögliche Bitte zu dieser Zeit. Wer wollte schon ein Kind bei sich aufnehmen, das der Vernichtung preisgegeben war? Aber, es kam einem Wunder gleich, die Deutsche, eine gewisse Frau Wiedt, stimmte zu und Lili konnte sich bis zur Auslagerung der deutschen Verwaltung in ihrer Wohnung verstecken. Das Kennenlernen von Lili und das ihr bevorstehende Schicksal beeindruckte diese Frau offensichtlich so, dass sie in den folgenden Monaten noch drei weitere jüdische Menschen bei sich aufnahm. Und so lebten vier Menschen versteckt in einem Haus in dem Viertel, in dem sonst nur hohe deutsche Funktionäre und auch der ukrainische Polizeipräsident wohnten.

Das erste Telefongespräch mit Lili klang viel versprechend. Gerne können wir bei ihr in London vorbeikommen – kurz nach dem Krieg emigrierte sie mit einem Kindertransport nach London, wo sie bis heute lebt – und mit ihr über unsere Reise sprechen. In London erzählt sie uns, auf welche wunderbare Weise sie und ihre Mutter überleben konnten, aber auch wie die Deutschen und die Ukrainer in Lemberg hausten und wie sie ihren Bruder und ihren Vater bei der großen Aktion im August 1942 verlor. Die Frage am Ende des Gesprächs, ob wir sie denn nach Lemberg einladen könnten, wenn wir im April 2007 mit einer Gruppe dorthin fahren würden, beantwortete sie positiv. Eigentlich wolle sie nie wieder in diese Stadt zurück, fühle sich aber auch verpflichtet, ihre Erlebnisse weiter zu vermitteln.

Kurz vor der Reise sah es dann doch beinahe so aus, als ob es nicht klappen würde. Trotz gesundheitlicher und persönlicher Hindernisse entschied sie sich jedoch dafür, das erste Mal nach den schrecklichen Ereignissen in den 1940er Jahren die Stätten der Vernichtung mit uns gemeinsam aufzusuchen.

Die Gruppe von 25 Deutschen und Niederländern, die mit uns nach Lemberg gekommen waren, zeigte sich tief beeindruckt, als Lili schließlich ihre Erlebnisse im jüdischen karitativen Zentrum B’nai Brith in Lemberg erzählte. ‚Sicher glaubt ihr mir nicht’, unterbrach sich Lili plötzlich. Zu unwahrscheinlich klinge es doch, wie sie sie immer wieder knapp dem Tod entronnen war. Am nächsten Tag besuchten wir dann die Orte, an denen sie sich in Lemberg aufgehalten hatte: Die Wohnung in der Stadt, in der sie mit ihrer Familie anfänglich gewohnt hatte, und von wo aus ihr Vater und ihr Bruder abgeholt worden war. Es scheint nichts verändert, so erzählt sie. ‚Und dort’, so fährt sie fort, ‚hatte der ukrainische Hausmeister gewohnt. Der war schon immer scharf auf unser Radio gewesen.’ Und weiter: ‚Als ich mit meiner Mutter nach der Aktion aus unserem Versteck zurückkam, fanden wir unsere Wohnung verplombt vor. Der ukrainische Hausmeister, von Beruf Polizist, stand davor. Er trug den Anzug meines Vaters, seine Armbanduhr und aus unserem Radio erklang laut Musik.’

Vom Vater und Bruder haben Lili und ihre Mutter nie wieder etwas gehört. Ob sie in dem Vernichtungslager Bełżec umgekommen sind oder bereits vorher, werden sie nie erfahren. Die beiden ziehen zu ihren Großeltern in das Ghetto Lembergs, das die Deutschen für die zum Tode verurteilten Menschen eingerichtet hatten. Lilis Mutter arbeitete als Näherin für die deutsche Zivilverwaltung, bis es im November 1942 zu einer weiteren ‚Aktion’ der Deutschen kam. Die Mutter war an diesem Tage in der Stadt geblieben, aber Lili wusste, dass auch ihre Arbeitsberechtigung sie bei der Rückkehr am Morgen nicht vor der Deportation retten würde. So schlich sie sich in der Nacht aus dem schwer bewachten Ghetto um sie zu warnen. Nur im Schlafanzug bekleidet kletterte sie über den Bahndamm, Hunde bemerkten sie, Schüsse fielen. Sie ließ sich neben den Gleisen in den meterhohen Schnee fallen. Und wieder einer dieser wunderbaren Zufälle, die deutschen Schergen begaben sich nicht auf die Suche nach ihr. Ob sie dachten, dass sie sie bereits getötet hatten? Nach einer Weile ließ Lili sich den Bahndamm herunterrollen und machte sich auf in die Stadt. In ihrem Schlafanzug wirkte die 7-jährige sicher wie jemand aus einer anderen Welt. Zweifellos verstanden alle, auf die sie traf, wer sie war und woher sie kam. Jeder und jede hätte sie ausliefern können, als sie sich frühmorgens in die Ecke einer Straßenbahn hockte. Niemand jedoch sagte auch nur ein Wort, bis sie schließlich die Arbeitsstelle ihrer Mutter erreichte.

Dort traf sie dann auf die Frau Wieth. Mit diesem Ereignis war Lilis Odyssee jedoch nicht zu Ende. Keinen Laut durfte sie von sich geben in der Wohnung, in der doch eigentlich niemand sein durfte. Jeder Gang auf die Straße war ein Spießrutenlauf. Traf sie auf jemanden, der sie erkannte? Wurde sie nach Papieren gefragt, die sie nicht hatte? Jeder falsche Schritt, jede zufällige Begegnung konnte dem Tod gleichkommen.

Dann rückte die Front näher und die deutsche Zivilverwaltung wurde ausgelagert. Wohin sollten sie nun gehen, welche Möglichkeit zum Verstecken gab es, an wen konnte man sich wenden? In diesem Moment kam der Metropolit Szepticki ins Spiel. Das Ehepaar, mit dem sie sich bei der Frau Wieth aufhielten, hatte gehört, dass er jüdische Menschen versteckte. Und tatsächlich, Szepticki sorgte dafür, dass Lili und ihre Mutter bis zum Kriegsende in einem christlichen Waisenhaus unterkommen konnte – Lili als Waise, ihre Mutter als taubstumme Näherin.

Am Tag ihres Abflugs wollten wir mit Lili zu den Schwestern des Ordens gehen, bei dem sie damals untergekommen war. Die damals verantwortliche Oberin lebt heute nicht mehr. Nachdem wir bereits ihr Grab gefunden hatten, wollte Lili sich versichern, dass dieses Grab auch weiterhin gut versorgt werden würde. Aber was würde uns erwarten? Würde sich jemand an die Schwester erinnern? Würde man uns freundlich aufnehmen oder abweisen?

Lili zögerte und es bedarf einiger Überredungskünste, um ihre Zweifel zu beseitigen. Das kleine mittelalterliche Kloster im Zentrum Lembergs strahlt Ruhe und Zurückgezogenheit aus. Manchmal kommen Touristen und bewundern die architektonische Bauweise des Innenhofes. Die Schwestern haben für sie einen kleinen Laden eingerichtet, in dem man Andenken und kleine selbst produzierte Devotionalien erwerben kann. Die dort arbeitende Schwester hört sich unser Anliegen an und bittet uns kurz zu warten. Es gebe noch eine Schwester, die sich an die Geschichte erinnern könne. Einen Moment später kehrt sie in Begleitung zurück. Die Schwester war als Kind in demselben Waisenhaus gewesen. Wie alte Bekannte fallen sich die beiden Frauen in die Arme und beginnen zu sprechen. Ja, gut könne sie sich an alles erinnern, meint die Schwester. Eine Jüdin, die sich als Taubstumme ausgegeben habe, habe ihr damals ein wunderschönes Kleid genäht. Aber das ist doch meine Mutter gewesen, bricht es aus Lili heraus. Sie kann kaum die Tränen zurückhalten, als die beiden schließlich in der kleinen Kirche im Andenken an die Oberschwester eine Kerze anzünden.

Bis zu ihrem Tod kümmerten sich Lili und ihre Mutter um die Frau Wieth, die beide gerettet hatte. Nie wieder wollte sie nach Deutschland zurückkehren und Deutsch sprechen. Ebenso wie die Schwester Oberin wurde sie in Yad Vashem mit der Medaille der Gerechten der Völker ausgezeichnet.

Im folgenden Jahr werden wir wieder eine Fahrt nach Lemberg organisieren. Lili Pohlmann wird wieder teilnehmen.

P.S. Lili Pohlmanns Geburtsname war Stern – in dem Kloster wurde sie Lidka Ostrowska genannt.

Steffen Hänschen

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