Wir dokumentieren hier einen Artikel aus der Rheinischen Post vom 25.08.2025

Zwei Orte in Izbica, einem kleinen Ort im Osten Polens, wurden zu stillen Bühnen bewegender Erinnerungsarbeit: der Bahnsteig, an dem während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft unzählige Deportationszüge hielten, und der jüdische Friedhof, auf dem viele der in Izbica gestrandeten Opfer der „Aktion Reinhardt“ kaltblütig erschossen und in Massengräbern verscharrt wurden. Beide Orte wurden nun zum Ziel einer besonderen Geste: Hauptschüler der Schule am Grenzlandring in Wegberg hatten ein berührendes Erinnerungsprojekt vorbereitet, das ihre Lehrerin Birgit Gravermann im Rahmen einer Lehrerfortbildung an diesen Orten übergab.
Erinnerung, wo die Spuren enden: Am Bahnsteig von Izbica, wo sich die Spuren von sieben jüdischen Bürgerinnen und Bürgern aus Wegberg im März 1942 verlieren, las Gravermann aus dem Erinnerungsbericht von Alex Salm, dem einzigen jüdischen Überlebenden Wegbergs, vor. Alex Salm war, anders als seine Eltern Moses und Berta, seine drei Geschwister Ilse, Lotte und Kurt sowie seine Tante Irma und sein Onkel Jakob, nach Riga statt nach Izbica verschleppt worden. Seine Worte „Keiner kam zurück“ wurden zur Mahnung und zum Antrieb der Projektarbeit. Drei Worte, die unvorstellbares Leid ausdrücken und die jungen Menschen aus Wegberg zu ihrem Thema machten. Noch am Bahnsteig überreichte die Hauptschullehrerin ein Fotoalbum an Steffen Hänschen, Mitarbeiter des Bildungswerks Stanisław Hantz und renommierter Buchautor zu den nationalsozialistischen Gräueltaten in der Lubliner Region. Das Album enthält neben Fotos und Informationen zu den Familien Salm auch persönliche Texte und Fotografien zu den künstlerischen Beiträgen der Hauptschüler sowie Eindrücke ihres Besuchs der Gedenkstätte Vught in den Niederlanden. Hänschen wird das Album an die Schule in Izbica weitergeben, deren Schülerinnen und Schüler sich anhand von Biografien mit den in ihrer Heimatstadt begangenen Verbrechen auseinandersetzen.
Am jüdischen Friedhof von Izbica legte Gravermann – unterstützt von Lehrkräften aus ganz Nordrhein-Westfalen – neun Erinnerungssteine nieder. Jeder Stein war von den Wegberger Jugendlichen individuell gestaltet worden, Ausdruck persönlicher Anteilnahme und kreativer Auseinandersetzung. „Symbolisch sind die beiden Familien Salm nun wieder vereint“, sagte Gravermann, denn auch an Alex und seinen Cousin Albert, dessen Schicksal nie geklärt werden konnte, erinnerten die farbenfrohen Steine. Diese liegen nun in unmittelbarer Nähe der Gedenksteine, die auf Initiative des Bildungswerks Stanisław Hantz an einzelne Opfer erinnern. Die Schülerarbeiten aus Wegberg sind Teil dieses Ortes geworden – als Zeichen des Mitgefühls, des Gedenkens und der Hoffnung auf eine gemeinsame Verantwortung für die Erinnerung. Außerdem entzündete die Lehrerin auf dem Friedhof ein Erinnerungslicht, versehen mit den Namen der Wegberger Juden, das ebenfalls von den Hauptschülern gestaltet worden war.

Die Sechst- und Achtklässler hatten sich als Projektgruppe während der Projektwoche intensiv mit der Geschichte der Familien Salm beschäftigt. Ihre Beiträge machten deutlich: Erinnerungsarbeit beginnt im Lokalen – und wirkt weit über den Unterricht hinaus. Die emotionale Dimension dieser Gedenkaktion gewinnt noch an Gewicht durch den historischen Kontext: Die „Aktion Reinhardt“ war eine von der SS geleitete Mordaktion, bei der zwischen Juli 1942 und Ende 1943 etwa 1,8 Millionen Jüdinnen und Juden in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka sowie durch Massenerschießungen ermordet wurden. Izbica war das größte Transitghetto im Distrikt Lublin und wurde zur Drehscheibe des industrialisierten Mordes. Steffen Hänschen schilderte eindringlich das Schicksal der Menschen: Entmenschlichung, Trennung von Familien, systematischer Raub und letztlich Ermordung. Die kleine Stadt hatte vor dem Krieg einen jüdischen Bevölkerungsanteil von rund 90 Prozent und galt als religiös und lebendig. Heute lebt dort kein einziger Jude mehr. Belzec, Treblinka und Sobibor waren keine Arbeits- oder Durchgangslager, sondern Orte des unmittelbaren Massenmords. Die „Aktion Reinhardt“ war damit der systematischste Teil des Holocaust – und gleichzeitig einer der am wenigsten im öffentlichen Bewusstsein verankerten.
Die Übergabe der Schülerarbeiten fand im Rahmen der achttägigen Lehrerfortbildung „Erziehung nach Auschwitz“ statt, die unter der Leitung von Bettina Röwe (Bezirksregierung Münster) in Kooperation des Landes Nordrhein-Westfalen mit der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem und dem Bildungswerk Stanisław Hantz organisiert wurde. Aufgrund der aktuellen politischen Lage konnte das ursprünglich geplante Seminar in Israel nicht stattfinden, sodass die ausgewählten Lehrkräfte unterschiedlichster Schulformen in NRW stattdessen auf den Spuren der „Aktion Reinhardt“ durch Polen reisten – über Berlin, Warschau, Lublin, Majdanek, Izbica bis nach Sobibor. In Workshops, Vorträgen und Führungen erfuhren die Teilnehmer, wie Erinnerung im Unterricht lebendig, altersgerecht und empathisch vermittelt werden kann. Steffen Hänschen, langjähriger Leiter von Bildungsreisen, und Julian Tsapir, Mitarbeiter von Yad Vashem, begleiteten die Gruppe mit großer fachlicher Tiefe. Durch sie wurde auch der emotionale Bogen zum Schülerprojekt aus Wegberg gespannt. Für viele Lehrkräfte war der Moment in Izbica ein Höhepunkt der Reise – nicht nur wegen der historischen Orte, sondern wegen der eindrücklichen Arbeit junger Menschen aus einer Hauptschule. Ihre Perspektive, ihr Mitgefühl und ihre Ausdruckskraft stehen für eine Erinnerungsarbeit, die berührt und bleibt. Für die Lehrkräfte war dieser Moment ein eindrückliches Beispiel dafür, was pädagogisches Erinnern bedeuten kann: nicht das Wiederholen von Fakten, sondern das Schaffen von Verbindungen – über Ländergrenzen, Generationen und Schulformen hinweg.