Am 17. Juli 2023 ist unser Ehrenmitglied Zofia Zielezinska in Zgorzelec verstorben. Ihr großes Ziel, 100 Jahre alt zu werden, war ihr nicht gegönnt. Zofia hatte viel Humor: Sie wollte unbedingt die 5000 Zloty vom polnischen Staat bekommen, die es für 100Jährige gibt. Sie war am 8. Mai 98 Jahre alt geworden.
Zofia hatte zwei Schwestern und einen Bruder. Alle vier Geschwister waren von der Deutschen Besatzung unmittelbar betroffen. Die Schwestern mussten als Zwangsarbeiterinnen dienen, ihr Bruder war in Sachsenhausen, später in Gusen inhaftiert. Sie selber war Gymnasiastin und wurde mit 16 Jahren zur Zwangsarbeit verpflichtet, zuerst in einer Papier- später in einer Munitionsfabrik. Sie war für die Heimatarmee im Untergrund tätig, wurde verraten und zu 25 Jahren Haft verurteilt. Zofia wurde 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert. Sie hat, wie so viele Frauen, kaum über ihre Haftzeit gesprochen. Ihre Informationen waren sehr karg: Sie musste sich das Bett mit zwei weitere inhaftierten Frauen teilen. Sie wurde in einer Munitionsfabrik eingesetzt und hatte das Glück, dass ihr Meister ihr erlaubte, ihre Wäsche zu reinigen.
Sie erzählte von ungenießbarem Essen, das sie krank machte. Und davon, dass es „verschiedene schlechte Vorkommnisse“ gab. Im April 1945 wurde sie mit einer Rettungsaktion des schwedischen Roten Kreuzes unter Graf Bernadotte nach Schweden geholt. Sie war krank und lag ein halbes Jahr im Krankenhaus. Als sie entlassen wurde, erfuhr sie auf dem Weg vom Krankenhaus zu ihrer Unterkunft zu ihrer Erleichterung von Hitlers Tod. Die Zeit in Schweden war für sie eine gute Zeit, sie arbeitete als Lehrerin, gab Alphabetisierungskurse. Ihr Vater schrieb sowohl an sie als auch an ihren Bruder einen Brief, sie sollten nach Polen zurückkehren, das Land brauche sie zum Wiederaufbau. Zofia kehrte in ihre Heimatstadt Kępno zurück, machte Matura und studierte einige Semester Polonistik. Nachdem 1950 ihr Sohn geboren wurde, musste sie arbeiten und ihr Geld verdienen. Zuletzt war sie Chefbuchhalterin in einem großen staatlichen Energiebetrieb. Dort lernte sie StanisƗaw Hantz, genannt Staszek, kennen, der im benachbarten Grubenbetrieb als Personalchef arbeitete. Sie kümmerten sich schon in ihren Betrieben gemeinsam um ehemalige Häftlinge und arbeiten seit den 80er Jahren im Klub für ehemalige Häftlinge Deutscher Konzentrationslager zusammen.
Wir haben Zofia 1989 kennen gelernt. Sie kümmerte sich um die Verwaltung des Klubs, organisierte alle Aktivitäten. Für unseren Verein war sie neben Staszek die wichtigste Bezugsperson. Staszek war der Repräsentant des Klubs und Zofia hat vieles umgesetzt. Nach Staszeks Tod hat Zofia den Vorsitz des Klubs übernommen. Wir haben bis zum Schluss gut mit ihr zusammengearbeitet. Unsere letzten gemeinsamen Aktivitäten waren die Erstellung einer gedruckten Mitgliederliste der Klubmitglieder und das allerletzte Neujahrsessen mit allen noch mobilen ehemaligen Häftlingen in Zgorzelec. Als ihre Kräfte nachließen hat sie die Unterlagen des Klubs dem Archiv des Landratsamtes Zgorzelec übergeben und die Klubräume aufgelöst.
Sie war schon mehrere Jahre schwer krank und konnte ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Ihre Urenkelin Natalia und ihr Enkel Piotr haben sie versorgt. Medizinisch wurde sie vom ehemaligen Arzt des Klubs ehemaliger Häftlinge betreut. Sie war viel alleine und ihre große Angst war, dass sie vergessen wird. Aus ihrer Familie gibt es außer der Familie des Enkelsohnes, soviel wir wissen, nur noch eine Nichte, mit der sie ab und an telefonierte.
Mit Zofia ist das letzte Mitglied des Klubs der ehemaligen Häftlinge deutscher Konzentrationslager in Zgorzelec verstorben. Regina Hantz, die Witwe von Staszek, gehörte auch zum Klub, ist aber selbst nicht ehemalige Gefangene eines deutschen Konzentrationslagers. Regina und Zofia hatten immer Kontakt zueinander. Für Regina ist der Tod von Zofia ein großer Schock, weil mit ihr das letzte Klubmitglied verstorben ist.
Wir waren in diesem Jahr mehrere Male in Zgorzelec, einmal auch mit einigen aus dem Verein. Als wir ihr die Ehrenmitgliedschaft verliehen haben. Sie war zwar gebrechlich, aber wirkte geistig fit und vital. Sie hat lange gezögert, ob sie diese Ehrenmitgliedschaft annehmen solle. Denn es sei zu befürchten, dass die Deutschen sich in diesen Kriegszeiten wieder mit den Russen gegen Polen verbündeten und dann könnte sie wieder verhaftet werden.
Zofia hat den Deutschen niemals verziehen, was ihr, ihren Landsleuten, was ihrem Land angetan wurde. Das Misstrauen, die Skepsis stand immer zwischen uns. Und dennoch gab es diesen Kontakt. Wenn wir bei ihr nachfragten, ob wir vorbeikommen können, hieß es zuerst: „Habt Ihr zuviel Geld! Warum seid ihr hier? Und dann freundlich und sanft: „No, ich warte.“ Zofia empfing uns mit einem Berg Kekse, der Tee wurde von ihr selbst mit dem Rollator aus der Küche herangeschoben. Sie war immer gut gekleidet… Die Abschiede wurden immer schwerer, von Mal zu Mal. Trotz Schwierigkeiten begleitete uns Zofia an die Tür und beobachtete uns vom Außengang aus beim Gang zum Auto. Wenn wir aus der Haustür kamen, erstes Winken nach oben zu Zofia. Wenn wir am Bürgersteig waren, noch ein Winken nach oben. Wenn wir die Straßenecke erreichten, noch einmal ein Abschiedsgruß hin und zurück. Dann an der Ecke ihres Blocks die letzten Blicke nach oben und das letzte Winken. Mit der Hoffnung, wir sehen uns wieder.
Bei den letzten Telefonaten, kurz vor ihrem Tod sagte sie uns, dass es ihr immer schlechter ginge, dass vor allem die Nächte schlimm seien, sie werde von Schmerzen geweckt. Sie habe nachts Zweifel, den Morgen noch zu erleben. Sie stünde mit einem Fuß bereits im Himmel. Sie ist am 17. Juli 2023 verstorben, exakt 15 Jahre nach dem Tod von StanisƗaw Hantz.
Wir sind Zofia sehr dankbar dafür, dass wir sie kennenlernen durften, dass wir sie mehr als dreißig Jahre besuchen durften, dass wir mit ihr reden durften, dass wir mit ihr zusammenarbeiten durften. Wir sind Zofia sehr dankbar für die vielen freundlichen und auch nicht so freundlichen und vor allem die heiteren Stunden mit ihr.