Wir sind an den Ruinen der ehemaligen Gaskammern im Krematorium V in Auschwitz-Birkenau. Henryk Mandelbaum stieg die paar Treppenstufen hinauf zum Krematorium, ging wie selbstverständlich in den Fundamenten der Ruinen herum, zeigte hierhin und dorthin, ruderte weit ausholend mit den Armen, stellte seine Arbeitssituationen nach und überschüttete die Dolmetscherin mit einem nicht zu übersetzenden Redefluss.
Nur ungeduldig beantwortete er die Fragen der deutschen ZuhörerInnen. Deren Unfähigkeit, ihm nur zögerlich in die Unmittelbarkeit seiner Erinnerungen zu folgen, machte ihn ungehalten. Eindringlich fragte er immer wieder zwischen seinen polnischen Sätzen auf Deutsch, verstehst du mich’ Dieser Satz klang nicht nach Frage, sondern war fordernde Aufforderung.
Viele Jahre begleitete Henryk Mandelbaum Gruppen des Bildungswerks Stanislaw Hantz e. V. in die Todeszone von Auschwitz-Birkenau. Er zeigte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Überreste der Orte seines damaligen Arbeitsplatzes: die Gaskammern, die Krematorien, die Verbrennungsgruben. Hier musste er ankommende Jüdinnen und Juden beruhigen, ihnen beim Entkleiden helfen, sie in die Gaskammern bringen, später ihre Leichen von dort herausschleppen, diese nach versteckten Wertgegenständen untersuchen und sie schließlich in die lodernde Grube werfen oder in die Verbrennungsöfen schieben.
Auch Henryk Mandelbaums Eltern wurden in einer dieser Gaskammern ermordet. Das war noch vor seiner Ankunft. Er ging davon aus, dass seine Eltern direkt nach ihrer Ankunft in Auschwitz in die Gaskammer geschickt wurden. Dennoch meldeten sich bei ihm immer wieder Zweifel und Hoffnung. Das drückte sich in der Bemerkung aus, dass sie sich bis zum heutigen Tage nicht bei ihm gemeldet hätten.
Vergleichsweise lange war es Henryk Mandelbaum in der Zeit vor seiner Verhaftung gelungen, sich der Deportation nach Auschwitz zu entziehen. Er flüchtete aus dem Ghetto Dabrowa Gornicza, in das man ihn zusammen mit seiner Familie verbracht hatte. Er lebte im Untergrund, bei christlichen Bekannten, unter falschem Namen, schlug sich bei Bauern durch, mit denen sein Vater in Friedenszeiten Viehhandel betrieben hatte. Erst der Verrat eines polnischen Bekannten oder gar Freundes brachte ihn in die Hände der Deutschen und kurz darauf nach Auschwitz. Dort wurde er nach einigen Wochen Quarantäne im Frühjahr 1944 dem ‚Sonderkommando‘ zugeteilt. Das war zu Beginn der sogenannten Höss-Aktion, der Ermordung der aus Ungarn kommenden Jüdinnen und Juden, die den ganzen Sommer über dauerte. Bei dieser Aktion wurden innerhalb von drei Monaten über 300.000 Menschen ermordet.
Als Henryk Mandelbaum nach Auschwitz kam, so beschrieb er es, wähnte er sich in der Hölle. Von seinem ersten Arbeitstag berichtete er immer wieder. Das war der Tag als er nach dem Öffnen der Gaskammern zum ersten Mal die verflochtenen toten Körper sah. Er sah die Familien, die sich an den Händen hielten, Mütter, die ihre Kinder eng umschlungen hatten. Wenn sie die Kammer betraten, so erzählte Henryk Mandelbaum, wurden sie mit Gas getötet. Das war für ihn etwas Unheimliches, etwas Wahnsinniges, Unbegreifliches. Dass man auf diese Art und Weise Menschen töten konnte, erschütterte ihn zutiefst. Er hatte so etwas niemals für möglich gehalten. Und auch nicht, dass er es sein würde, der diese Menschen nehmen und in eine Grube zum Verbrennen schleifen musste. Niemals hätte er gedacht, dass er es verkraften könne, so zu arbeiten. Er glaubte, er sei damals innerlich erstarrt, alles sei in ihm erstarrt.
Als unmittelbarer Zeuge des Massenmordes wurde er mit den anderen Häftlingen des Sonderkommandos von den übrigen Häftlingen streng isoliert. Im Oktober 1944 wurde Henryk Mandelbaum Zeuge des Aufstandes des Sonderkommandos und überlebte nur zufällig die nachfolgenden Mordaktionen der SS.
Als die Front im Osten immer näher rückte, wurden im Januar 1945 schließlich die letzten 80 noch lebenden Häftlinge des Kommandos auf Transport in Richtung Konzentrationslager Mauthausen geschickt. Henryk Mandelbaum befürchtete, dass dies sein endgültiges Todesurteil sein könnte und beschloss zu fliehen. Er besorgte sich zivile Kleidung, die er auf dem Evakuierungsmarsch unter der Häftlingskleidung trug. In einem günstigen Moment verließ er die Marschkolonne der Häftlinge und tauchte schließlich in der Menge der am Straßenrand stehenden ZivilistInnen unter.
Er sagte: „Wenn ich daran denke, was ich gesehen und erlebt habe, dann fühle ich mich wie ein wieder auferstandener Mensch“.
Das Bildungswerk Stanislaw Hantz e.V. hatte Henryk Mandelbaum immer wieder zu Veranstaltungen nach Deutschland eingeladen. Er begleitete fast zehn Jahre Gruppen des Bildungswerks in der Todeszone von Auschwitz-Birkenau.
„Nur die Sterne waren wie gestern“ ist der Titel einer Ausstellung über Henryk Mandelbaum. Die Ausstellung wurde Anfang Mai 2005 In Oswiecim/Polen eröffnet und war bisher an 25 Orten in der Bundesrepublik zu sehen.
Im Alter von 85 Jahren starb Henryk Mandelbaum nach einer Herzoperation in der Nacht zum 17. Juni 2008.