Nach 18 Jahren wurde am 14. September 2021 die Gedenkallee in Sobibor abgebaut. Die Steine wurden in der Nähe des Ortes gelagert, an dem sie zukünftig wieder aufgestellt werden sollen.
Kurz nach 10.00 Uhr begannen Bauarbeiter mit dem Abbau der Gedenkallee in Sobibor.
Kurze Geschichte der Gedenkallee
Im Jahr 2003 wurde auf dem Gelände des ehemaligen Mordlagers Sobibor die Gedenkallee eröffnet. Ein Baum und davor jeweils ein Gedenkstein erinnerten an einen in Sobibor ermordeten Menschen. Auf einer am Stein angebrachten Tafel standen Geburtsort und Geburtsdatum; so sollte den Opfern ein wenig ihre Geschichte zurückgeben werden. Nicht eine unvorstellbare anonyme Opferzahl sollte im Mittelpunkt stehen, sondern der einzelne Mensch. In Sobibor wurde 180.000-mal ein Mensch ermordet. In der Folgezeit wurde die Gedenkallee zu einem dynamischen Erinnerungsprojekt. Jahr um Jahr kamen neue Steine mit Namen und biografische Daten dazu, nach und nach wuchs ein lebendiger Gedenkort heran. Die Gedenkallee für die ermordeten Jüdinnen*Juden in Sobibor ist kein staatliches, sondern ein von Bürger*innen Europas getragenes Gedenk- und Erinnerungsprojekt. Hunderte Menschen aus Deutschland, den Niederlanden, aus Frankreich und Polen haben sich an der Entstehung und Finanzierung der Gedenkallee beteiligt.
Auch aus Australien, Israel und den USA gab es Unterstützung. Es sind vor allem Angehörige von in Sobibor Ermordeten, die ihrer geliebten Eltern, Großeltern, Urgroßeltern ihrer Geschwister, Verwandten und Freunde gedenken und der an ihnen begangene Verbrechen erinnern wollen. Es beteiligten sich auch Bürger*innen aus Deutschland, die an Jüdinnen*Juden erinnern wollten, die aus ihren Heimatorten nach Sobibor verschleppt worden waren. Schulklassen und auch Gruppen von Studierenden engagierten sich ebenfalls bei der Fortführung der Allee. Sie erinnerten an ehemalige jüdische Jugendliche. Immer wieder brachten Menschen aus verschiedenen Ländern selbst angefertigte Steine mit Plaketten mit und legten sie in der Allee nieder. Allen diesen Spender*innen ist gemein, dass ihre Trauer und ihr Wunsch nach einem Gedenken mit dem Stein einen konkreten und angemessenen Ort gefunden haben. Die Opfer kehrten nun namentlich bekannt in die Welt der Trauernden und Gedenkenden zurück. Es entwickelte sich ein Gedenkort wie wir es uns gewünscht hatten, aktiv bewahrend, ständig wachsend und breit getragen. Mehr als 300 Steine bildeten die Gedenkallee von Sobibor.
Für die Besucher*innen von Sobibor wurde die Allee zu einem Areal der Stille, der Einkehr und des Gedenkens. Der geschützte Weg zwischen den Fichtenreihen, dessen Ende sich erst nach der Biegung des Weges erschloss, das Lesen der Namen auf den Gedenksteinen liess erahnen, welch grausames Geschehen an diesem Orte stattfand. Die Allee mit ihren Steinen wurde zum Herzstück der Gedenkstätte, zum zentralen Anziehungspunkt vor Ort, und nahm eine dominante Rolle ein.
Die Neugestaltung der Gedenkstätte Sobibor ab 2017 betraf auch die Gedenkallee. Für die Zeit der Bauarbeiten verfügte das Staatliche Museum Majdanek, das keine neuen Gedenksteine aufgestellt werden können. Lange Zeit war darüber hinaus unklar, ob die Gedenkallee erhalten bleibt. Das Bildungswerk Stanisław Hantz, Initiator der Gedenkallee, wurde nicht in den Entscheidungsprozess zur Zukunft der Allee einbezogen. Nach Jahren des Wartens und Stillstands wurde schließlich eine Entscheidung getroffen: Die Gedenkallee soll abgebaut werden. Zu unserem großen Bedauern wurde damit am 14. September 2021 begonnen. Die Gedenksteine wurden auf einem Platz von dem Gelände der Gedenkstätte gelagert. Die bisherigen Tafeln mit den biografischen Daten werden von den Steinen entfernt und durch neue ersetzt. Die Gedenksteine werden nach Beendigung der Neugestaltung an einem anderen Ort in der Gedenkstätte wieder aufgestellt, sodass ein würdiger neuer Ort für diese der Anonymität entrissenen Opfer entstehen wird. Nach der Umverlegung der Gedenksteine sollen auch wieder neue Steine aufgestellt werden können. Das europäische Bürgerprojekt Gedenkallee wird mit dem Namen Gedenksteine fortgesetzt.
Dokumentation: „Die Gedenksteine in Sobibor“
Mit der Auflösung der Gedenkallee und der Verlegung der Steine an einen anderen Ort wird ein neues Kapitel in der Geschichte der Gedenksteine in Sobibor aufgeschlagen. Für uns war dies der Anlass, um mit einer Veröffentlichung die Geschichte der Gedenkallee bzw. der Gedenksteine zu dokumentieren. Auf den ersten Seiten der Broschüre stellen wir sieben Gedenksteine und die dazu gehörigen Lebensläufe der Menschen vor. Anschließend erzählen wir die Geschichte der Gedenkallee bzw. der Gedenksteine. Hinzugefügt haben wir einen Artikel über die Geschichte des Geländes des Mordlagers SobibórNach der Befreiung der Region im Juli 1944 dauerte es 21 Jahre, bis im Jahr 1965 eine erste Gedenkstätte eröffnet wurde. Und es sollten noch einmal 28 Jahre vergehen, bis 1993 ein Museum eröffnet wurde. Im September 2008 verständigten sich die Regierungen von Polen und Israel, der Slowakei und den Niederlanden, die Gedenkstätte Sobibor neu zu gestalten. Im Mai 2012 wurde Sobibor dem Staatlichen Museum Majdanek in Lublin zugeordnet. Voraussichtlich im Oktober 2022 wird die Neugestaltung der Gedenkstätte abgeschlossen sein.
Die Broschüre „Die Gedenksteine in Sobibor“ kann zum Preis von 15,00 Euro bestellt werden: info@bildungswerk-ks.de
Patenschaften für die Aufstellung neuer Gedenksteine in Sobibor
Im Frühsommer 2020 hatte das Bildungswerk Stanisław Hantz dazu aufgerufen, Patenschaften für Gedenksteine zu übernehmen, die polnischen Jüdinnen*Juden gedenken, die in Sobibor ermordet wurden. Bisher ist es so, dass die meisten Gedenksteine der Allee Ermordeten gedenken, die nicht aus Polen stammten. Es ist aber so, dass der Großteil der Opfer aus Polen kam und aus dem Deutsch besetzten Polen, dem sogenannten Generalgouvernement, nach Sobibor verschleppt wurden. Der Holocaust in Westeuropa wurde bürokratisch organisiert und verwaltet, mit der Erstellung von Deportationslisten, mit Namen, Adressen, Geburtsort und -datum. In Polen wurden die Jüdinnen*Juden namenlos in die Waggons getrieben. Einzig entscheidend war ihre Anzahl in einem Waggon. Ihre Namen waren für die Deutschen bedeutungslos. Die Arbeit mit der Erstellung von „Transportlisten“ mit Namen, Adressen etc. ersparte man sich. Das Fehlen von Dokumenten zur Verschleppung der Jüdinnen*Juden aus dem Generalgouvernement nach Sobibor ist aber nicht der entscheidende Grund, warum so wenige Gedenksteine für polnische Jüdinnen*Juden in der Gedenkallee niedergelegt wurden. Namen für Steine gäbe es trotz der schlechten Quellenlage dennoch zur Genüge. Der weitaus wichtigere Grund liegt in der gesellschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte der jüdischen Gemeinden in Polen und ihrer Auslöschung durch die Deutschen im 2. Weltkrieg. Die polnischen Jüdinnen*Juden verschwanden nach ihrer Ermordung auch aus der gesellschaftlichen Erinnerung. Nach 1945 gab es in Polen für lange Jahre in der öffentlichen Erinnerung keinen Platz für das jüdische Leben vor der deutschen Besatzung. Nur wenige Menschen interessierten sich für das Schicksal ihrer ehemaligen jüdischen Nachbar*innen. Dies begann sich jedoch, in den letzten Jahren zu ändern, der Prozess ist jedoch schwer und langwierig.
Vielleicht ist darin der Grund dafür zu sehen, warum in der polnischen Gedenkpolitik nach wie vor eher die Vorstellung von „großen Opferzahlen“ dominiert und es eine distanzierte Haltung zu der Darstellung von individuellen Einzelschicksalen gibt, was jedoch ein zentraler Bestandteil der Gedenksteine sein soll.
Nach dem Aufruf für Patenschaften wurden 35 Gedenksteine für polnische Jüdinnen*Juden gestiftet. Im September 2021 hat das Bildungswerk Stanisław Hantz dem Leiter der Gedenkstätte Sobibor, Tomasz Oleksy-Zborowski, die Liste mit Biografien der Opfer übergeben.
Webseite zu den Gedenksteinen in Sobibor
Auf der Webseite sobibor.de vom Bildungswerk Stanisław Hantz erfahren sie mehr zu den Gedenksteinen in Sobibor. Z.B. dokumentiert ein Namensverzeichnis alle Jüdinnen*Juden für die ein Gedenkstein gelegt wurde.