
Bei einer Fortbildung haben Lehrerinnen und Lehrer aus Nordrhein-Westfalen haben am 17. Juli das Museum Sobibór besichtigt. Bei dem Besuch wurde im Gedenkweg ein Gedenkstein für Bertha Davidson-Salomon aufgestellt.

Bei der Gedenksteinlegung wurde ein Brief von Hans Davidson, Enkel von Bertha Davidson-Salomon, vorgelesen: „Ich habe meine Großmutter, Bertha Davidson-Salomon, nie kennengelernt. In meiner Kindheit hingen in unserem Haus Fotos von vielen Familienmitgliedern, die ich nie getroffen, nie berührt und deren Stimmen ich nie gehört habe. Man sagte mir, sie seien gestorben – ohne weitere Erklärung. Ich fragte nicht, meine Eltern erzählten nichts. Ihre Vergangenheit war unaussprechlich. Erst viel später erfuhr ich mehr über sie – jedoch nur über die Ereignisse, in die sie verwickelt waren. Persönliche Geschichten gab es kaum. Sie blieben zweidimensional, wie die Fotos. Ich denke nicht einmal an meine Großmutter als „meine Oma“. Ich kann sie mir nur als Person vorstellen, indem ich in den Dokumenten über sie lese.
Bertha Salomon wurde in der kleinen Stadt Dülmen in Deutschland geboren. Ihre Familie betrieb eine Metzgerei und lebte dort seit Generationen. Sie war eine kleine Frau und lebte im Familienhaus bis 1905, als sie im Alter von 30 Jahren Isidor Davidson heiratete, der 1901 als Lehrling aus Zwolle, Niederlande, zu ihnen gekommen war. Sie hatten vier Kinder: Hermann, Walter, Johanna und Adolf (Dolf), meinen Vater, den Berta im Alter von 43 Jahren bekam.
Gemeinsam eröffneten sie ihre eigene Metzgerei in Dülmen. Sie besaßen ein großes Gebäude mit Wohnräumen, einem Verkaufsraum, Schlachträumen, Kühl- und Räucherbereichen, Zimmern für das Personal sowie einem Stall. Bertha war aktiv im Geschäft tätig und kümmerte sich gleichzeitig um alle Belange ihrer großen Familie.
Anfangs waren sie erfolgreich. Sie verkauften wöchentlich große Mengen Fleisch, waren in der Region bekannt für ihre geräucherten Produkte und Würste und boten auch Catering bis ins Ruhrgebiet an. Sowohl Hermann als auch Walter arbeiteten im Betrieb. Während der Hyperinflation in Deutschland Anfang der 1920er Jahre verloren sie ihr gesamtes Erspartes, konnten sich jedoch wieder gut erholen. Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der Einführung der antisemitischen Maßnahmen wurde das Leben der Familie Davidson zerstört. 1933 griffen lokale Nazis das Geschäft an, schlugen die Fenster ein und verletzten Walter schwer. Danach postierten sie sich vor dem Laden, um die Kunden einzuschüchtern.
Noch im selben Jahr verließen Johanna und Hermann Deutschland und gingen in die Niederlande. Johanna ließ sich zur Krankenschwester und Hebamme ausbilden und arbeitete in einem jüdischen Krankenhaus in Amsterdam. Hermann verkaufte Stoffe auf einem Markt in Rotterdam. 1942 wurde er verhaftet, kam ins Gefängnis und später in ein Konzentrationslager in den Niederlanden. Von dort wurde er nach Auschwitz-Birkenau deportiert und ermordet.
Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich zusehends, da Juden vom Markt ausgeschlossen wurden und ihnen schließlich der Kauf von Vieh untersagt wurde. Isidors Proteste blieben erfolglos – sie mussten die Metzgerei schließen. Aufgrund ihrer niederländischen Staatsangehörigkeit konnten sie 1937 in die Niederlande zurückkehren, obwohl das Land zu diesem Zeitpunkt für ausländische Flüchtlinge geschlossen war. Sie durften nur Haushaltsgegenstände und 5000 Reichsmark mitnehmen (heute ca. 30.000 US-Dollar). Ihr Haus samt Einrichtung wurde an einen Metzger aus dem Raum Dülmen vermietet – Einnahmen erhielten sie nie, nur Anwaltskosten. Bertha versuchte bis zu ihrer Deportation verzweifelt, ihr Geld zurückzubekommen.
Dolf, der wegen seiner jüdischen Herkunft vom Gymnasium in Münster verwiesen worden war, und Walter verließen Dülmen ebenfalls 1937 und arbeiteten in Metzgereien in den Niederlanden.
In Zwolle mieteten Bertha und Isidor eine Wohnung und gründeten eine kleine Hausmetzgerei und einen Viehhandel. 1939 starb Isidor bei einem Motorradunfall. Danach zogen Walter und Dolf zu ihrer Mutter. Dolf arbeitete weiter, selbst als Juden während der Besatzung jede Geschäftstätigkeit untersagt wurde. Walter arbeitete in einer Zwoller Metzgerei, bis auch diese geschlossen wurde.
Am 1. Oktober 1942 wurden Walter und 80 andere Juden aus Zwolle in einer Schule zusammengetrieben und später nach Auschwitz deportiert, wo er starb. Er konnte seiner Mutter noch einen Abschiedsbrief vom Zug aus zuwerfen. Johanna sowie Dolf und seine Frau Saartje überlebten den Holocaust. Johanna arbeitete versteckt als Krankenschwester in verschiedenen Krankenhäusern, Dolf und Saartje lebten über zwei Jahre lang im Versteck – direkt neben dem Hauptquartier der örtlichen NSDAP-Gruppe.
Meine Großmutter Berta blieb allein in ihrer Wohnung zurück, trauernd über ihre Verluste und wartend auf das Unvermeidliche. Im April 1943 gehörte sie zu den letzten hauptsächlich älteren Juden der Stadt, die mit dem Bus ins Durchgangslager Westerbork gebracht wurden. Am 16. April 1943 kam sie mit vielen anderen am Bahnhof des Vernichtungslagers Sobibór in Polen an. Die Reise war lang, aber nicht unangenehm – es gab Essen, Trinken, einen Arzt und Krankenschwestern. Man sagte ihnen, sie sollten aussteigen, ihr Gepäck mitnehmen und es auf der Rampe abstellen. Das Lager wirkte gepflegt mit ordentlichen Häusern und hübschen Gärten. Sie wurden auf einen Platz geführt, wo ein Mann im weißen Kittel sie begrüßte und erklärte, dass sie vor der Weiterleitung in Arbeitslager entlaust und geduscht werden müssten. Sie mussten sich ausziehen und ihre Haare wurden abrasiert. Dann trieb man sie durch einen schmalen Gang mit Zäunen und Kiefernflechtwerk zu einem großen Gebäude. Die Stahltüren schlossen sich. Aus den Duschköpfen kam kein Wasser – stattdessen wurde ein Dieselmotor gestartet und Abgase füllten den Raum. Alle Anwesenden wurden erstickt.
Nach dem Aufstand im Lager und der Flucht einiger Gefangener wurde Sobibór fast vollständig zerstört, um die Verbrechen zu vertuschen. Heute ist Sobibór ein friedlicher Ort. Die Schreie der Täter und der gequälten Opfer sind abgelöst vom Vogelgesang und dem Rauschen der Bäume. Frisch und süß riecht die Luft – der Gestank der verbrannten Leichen ist verschwunden. Doch die Reihen von Gedenksteinen mit Namen erinnern alle Besucher an das Verbrechen, das hier geschah. Ich bin sehr dankbar und bewegt, dass heute am 17. Juli 2025 ein Stein für meine Oma von Ihnen/von euch verlegt wird. Möge Bertha Davidson in dem Frieden ruhen, der ihr auf Erden verweigert wurde, und möge ihr Andenken dazu beitragen, zukünftige Gräueltaten wie die in Sobibór zu verhindern.“
