Janina Janczyk war eine kleine zarte Person, vorsichtig, höflich und freundlich. Sie legte sichtbar Wert auf ihr Äußeres. Sie bewohnte in Skawina eine gepflegte 3-Zimmer-Wohnung in einem Wohnblock. Blumen und Pflanzen, allerlei gesammelte Figuren, Schalen, Bilder und Deckchen umgaben sie in ihrer hellen, anheimelnden ‚Puppenstube‘. Dort holten wir sie Jahr für Jahr ab, damit sie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer Bildungsreisen in Auschwitz-Birkenau durch ‚ihr‘ Frauenlager führte. Sie hatte sich Zeit ihres Lebens vom Thema Auschwitz eher abseits gehalten. Sie hatte sich nicht mit Daten, Fakten und geschriebener Geschichte befasst. Ihr hinreißender und leiser Vortrag lag in ihrer bescheidenen Botschaft, die lautete: Ja, hier war ich eingesperrt, ja, hier habe ich gelitten. Ja, ich habe das hier überlebt. In ihrer Erzählung wurde das hilflose Kind sichtbar, das brutaler Weise in dieses Lagerleben geschleudert worden war. Sie selber schilderte die Zeit im Lager, als hätte sie sie in Trance erlebt, als wäre sie nicht bei Bewusstsein gewesen und von den Ereignissen einfach mitgerissen worden. „Ich war doch noch ein Kind, ich war doch nur ein Kind, und dann hier plötzlich ohne die Mutter“, sagte sie leise mit einem kleinen Lächeln, fast so als bäte sie um Entschuldigung. Sie zeigte uns allen ‚ihren‘ Block, ihre Koje. Wir sahen ihre Angst, ihre Distanz, ihr Bemühen all das von sich fernzuhalten.
Gerade einmal fünfzehn Jahre alt war Janina Janczyk, als die deutschen Besatzer sie in dem kleinen polnischen Ort Dabrowa Gornicza bei einer Straßen-Razzia verhafteten. Nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt in Sosnowiec kam sie ins Frauenlager nach Auschwitz-Birkenau. Das war im Winter 1943. Das Frauenlager befand sich zu der Zeit noch im Aufbau. Die sanitären Einrichtungen waren völlig unzulänglich, Wasser gab es zu diesem Zeitpunkt für 12.000 Frauen aus einem einzigen Wasserhahn.
Janina Janczyk hat mehrere Jahre Bildungsreisen des Bildungswerks Stanislaw Hantz ins Frauenlager Auschwitz-Birkenau begleitet. Immer wieder äußerte sie sich bei diesen Besuchen entsetzt darüber, dass nun Latrinen und Waschräume zu sehen waren, die während ihrer Zeit im Lager niemals funktionierten. Für sie gab es einen Balken, auf den sich die Frauen hocken mussten. Sie erinnerte sich an Frauen, die in die Grube fielen und in der Kloake ertranken. Die saubere Lagerstraße im Museum Auschwitz-Birkenau ließ sie an qualvolle Appelle denken, eine im Frauenlager oft eingesetzte Folter. Da standen Tausende von Frauen im Winter in Eiseskälte, im Sommer unter sengender Hitze und warteten verzweifelt darauf, endlich in die Unterkünfte entlassen zu werden. Oftmals lief ihnen der Durchfall die Beine hinunter.
Die restaurierten Steinbaracken im ehemaligen Frauenlager, die für BesucherInnen zugänglich sind, weckten in Janina Janczyk die Erinnerung daran, wie sie anfangs in einer 3-stöckigen Koje zu ebener Erde direkt auf dem Boden schlafen musste. Erst nachdem sie so nicht weiterleben, sich umbringen wollte, durfte sie in einer weiter oben gelegenen und damit weniger kalten und nicht von Ratten heimgesuchten Pritsche schlafen.
Die Arbeiten, zu denen Janina Janczyk gezwungen wurde, waren körperlich extrem schwer. So war sie Kommandos zugeteilt, die Fischteiche reinigen und Gräben ausheben mussten. Zeitweilig war sie einem Kommando zugeteilt, das die Asche der in den Krematorien von Birkenau ermordeten Menschen auf den umliegenden Feldern zu verteilen hatte. Immer wieder wies sie darauf hin, dass selbst der ehemalige Lagerkommandant Höss in seinen Erinnerungen schrieb, im Frauenlager Birkenau hätten bei Weitem die schlimmsten Zustände der Lager Auschwitz-Birkenau geherrscht.
Im Sommer 1944 wurde Janina Janczyk ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verlegt, dort musste sie in einer Fallschirmfabrik arbeiten. Von Ravensbrück aus kam sie ins Konzentrationslager Sachsenhausen, wo sie sie in einer Munitionsfabrik eingesetzt wurde. Nach 27 Monaten Lagerhaft wurde sie schließlich im März 1945 auf dem ‚Todesmarsch’ von der US-Armee befreit. Nach ihrer Aussage war die schlimmste Begebenheiten ihres Lebens ihr Wiedersehen mit ihrer Mutter nach dem Krieg. Die Mutter holte sie vom Bahnhof ab und erkannte sie nicht, weil Janina zu abgemagert und von der Haft gekennzeichnet war.
Nach ihrer Heirat im Jahr 1948 arbeitete Janina Janczyk als Technikerin in leitender Stellung in einer Aluminiumhütte in der Nähe von Krakau, sie bekam zwei Kinder. Sie erzählte, dass sie vor allem mit dem Überleben beschäftigt war. Sie wurde von Albträumen geplagt. In ihren Träumen floh sie immer wieder vor einem SS-Mann.
Janina Janczyk schwieg jahrelang konsequent über ihre Zeit in Auschwitz. Sie sprach darüber weder mit Bekannten, Freunden und Freundinnen, ehemaligen Häftlingen, der Familie. Sie wollte niemanden mit diesen Erinnerungen belasten. Sie wollte auch sich selbst nicht belasten. Ihr Ehemann und ihre Kinder fuhren ohne sie in die Gedenkstätte Auschwitz – Birkenau, um sich über das Geschehene vor Ort zu informieren. Später als Witwe bedauerte sie, ihrem Mann niemals von ihren Erinnerungen an Birkenau erzählt zu haben. Janina Janczyk konnte zwar viele Jahre nicht über ihre Erlebnisse im Lager reden, besuchte aber regelmäßig den Klub der ehemaligen Häftlinge Deutscher Konzentrationslager in Krakau.
Ab Anfang der 2000er Jahre war Janina Janczyk bereit, den Teiulnehmerinnen und Teilnehmer unserer Bildungsreisen in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau über ihre leidvollen Erlebnisse und Erinnerungen zu erzählen. Sie fühlte sich dazu verpflichtet, denn nur sie als Häftlingsfrau könne vermitteln, wie es wirklich war. Eine Führung könne nicht die Erfahrungen der Häftlinge wiedergeben.